Die Torys wollen nicht über den Brexit reden, Labour nicht, auch sonst niemand. Dabei gäbe es dazu sehr viel zu sagen. Warum ist das so?
„Verschwörung des Schweigens“Warum niemand über den „Brexit“ sprechen will
„Warum spricht im Wahlkampf niemand über den Brexit?“. Dies war eine zentrale Frage, die dem konservativen Außenminister und ehemaligen britischen Regierungschef David Cameron am Donnerstag bei einer Pressekonferenz im Zentrum Londons gestellt wurde. „Wir reden doch hier darüber“, entgegnete er und verwies auf die „Errungenschaften“ von Premierminister Rishi Sunak wie etwa den Windsor Framework, ein Abkommen, durch das der Warenverkehr zwischen Nordirland und der EU im Februar 2023 neu geregelt wurde.
Dass sich der 57-Jährige kritische Fragen gefallen lassen muss, ist nicht verwunderlich. Schließlich war er es, der 2016 die politischen Gräben in seiner Partei mit einem Referendum zu kitten versuchte. Er wollte die Briten mit Argumenten über die hohen Kosten eines EU-Austritts überzeugen. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Im Juni 2016 stimmte eine knappe Mehrheit gegen seine Empfehlung für den Austritt aus der EU. Der Politiker, dem der Brexit damit quasi versehentlich passierte, weil er die Gefahr nicht sah, gestand seine Niederlage ein und trat zurück.
Brexit: Zu sagen gäbe es genug
Es gäbe viel zu sagen über den Brexit, keine Frage. Vor allem im Wahlkampf. Der Brexit spaltete das Vereinigte Königreich und führte zu politischen Turbulenzen mit fünf konservativen Premierministern, von Cameron über Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss bis hin zu Rishi Sunak. Im Handel sind Barrieren entstanden. Die Investitionsbereitschaft der Unternehmen wurde gedämpft. Und zum Ärger vieler Brexit-Wähler, die genau deshalb so abgestimmt hatten, ist die Zahl der Einwanderer inzwischen höher als vor dem EU-Austritt. Aber keiner will darüber reden. Das Thema kommt quasi nicht zur Sprache.
Tim Bale, Politologe an der Queen Mary University of London, spricht von einer „Verschwörung des Schweigens“. Der Brexit sei der sprichwörtliche Elefant im Raum. In einem 60-minütigen Wortgefecht zwischen Rishi Sunak und Labour-Chef Keir Starmer tauchte das Thema nicht einmal am Rande auf. Sunak, damals wie heute ein Brexit-Befürworter, will nicht darüber sprechen, weil eben kein „goldenes Zeitalter“ angebrochen ist. Starmer hingegen fürchte Stimmen zu verlieren, wenn er den Austritt aus der EU zur Sprache bringt, so Patrick Diamond, einst politischer Berater unter der früheren Labour-Regierung. „Die Partei braucht Wähler, die sowohl für als auch gegen den Brexit gestimmt haben“, sagt Diamond. Deshalb redeten sie lieber über den Zustand der Wirtschaft, die gestiegenen Lebenshaltungskosten und das öffentliche Gesundheitssystem NHS.
Auch die rechtspopulistische Partei Reform UK unter Nigel Farage, der sich einst lautstark für den Austritt aus der Europäischen Union eingesetzt hat, meidet das Thema oder verweist darauf, dass der Brexit schlicht nicht richtig umgesetzt worden sei. Die britischen Medien ziehen ihn dafür nicht zur Rechenschaft. „Weder die Tory-Medien noch ihre Labour-Pendants wollen darüber sprechen, aus Angst, Wähler zu verprellen, und die Fernsehsender glauben, dass es die Zuschauer abschreckt“, sagt Bale. Der Brexit sei eine Wunde, die manche nicht erneut aufreißen wollen, zumindest jetzt nicht.
Viele wollen eine Annäherung an die EU
Gleichzeitig wünscht sich ein nicht unerheblicher Anteil der Labour-Wähler durchaus eine Annäherung an die EU; oder sogar eine schnelle Rückkehr in das Bündnis. Laut Patrick Diamond gebe es innerhalb der Labour-Führung aktuell jedoch „keinen Appetit“, wieder in die EU einzutreten. Ihrem Wahlprogramm zufolge will die Partei die Beziehungen zur EU wiederherstellen und neu gestalten, aber unbedingt außerhalb bleiben.
Wie lange dies anhält, hinge davon ab, wie sich die Wirtschaft entwickelt. „Je länger die Labour-Regierung im Amt wäre, desto ungeduldiger könnten die Menschen werden“, so Diamond. Minister könnten dann darauf hinweisen, dass es Großbritannien außerhalb der EU nicht gut gehe, die wirtschaftliche Lage zu schwach sei und „radikalere Schritte“ zur Annäherung notwendig seien. Dem Experten zufolge könnte es jedoch Jahre dauern, bis Labour solche Argumenten in die Öffentlichkeit trägt.