In dieser Woche feiert das westliche Verteidigungsbündnis sein 75-jähriges Bestehen – in einer Zeit, in der es so gefordert ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Rundschau-Debatte des TagesDie Nato – Lebensversicherung oder Auslaufmodell?
Wenn es um seine ersten Erinnerungen an die Nato geht, denkt Boris Pistorius an Weihnachten 1981. Da wurde dem 21-jährigen Wehrpflichtigen eröffnet, dass er Heiligabend vielleicht doch in der Kaserne verbringen muss. In Polen stellte die Gewerkschaft Solidarnosc das Machtmonopol der Kommunisten in Frage, die Regierung verhängte das Kriegsrecht – und im Westen befürchteten viele, die Sowjets könnten in Warschau einfallen.
Das transatlantische Bündnis habe damals eine große Rolle gespielt, sagt Pistorius. „Da war ich schon mal schwer beeindruckt von dem Konstrukt.“ Sein Gedanke von damals leitet den Verteidigungsminister bis heute im Umgang mit Russland: „Wenn man mit einem solchen Gegenüber in Frieden leben will, kann man das nur aus einer Position der Stärke heraus.“ Nach mehr als vier Jahrzehnten klingt die neue Realität wie die alte: Die Gefahr für den Westen geht von Moskaus Expansionsdrang aus.
Nato: Sinnfrage ist beantwortet
Der SPD-Politiker erzählt die Anekdote am Rande eines Treffens mit seinen Amtskollegen im Nato-Hauptquartier in Brüssel. Sie kümmern sich um die letzten Vorbereitungen zum Jubiläumsgipfel in Washington. Ab Dienstag feiern die 32 Mitgliedstaaten an ihrem Gründungsort mit allem Pomp und Gloria den 75. Geburtstag der westlichen Verteidigungsallianz.
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Der Festakt ist die zelebrierte Zurschaustellung der wiederbelebten Nato, nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron ihr noch vor Jahren den „Hirntod“ bescheinigt hatte. Die Frage, wozu das Bündnis nach dem Fall des Eisernen Vorhangs noch gut sein soll, stellt sich heute nicht mehr. Russlands Präsident Wladimir Putin hat sie mit seinem Überfall auf die Ukraine beantwortet. „Seit der Annexion der Krim 2014 geht es wieder ums Überleben“, sagt Claudia Major, Sicherheitsexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Während sich die Nato viele Jahre in der Sinnkrise verfing und die Selbstzweifel nach problematischen Auslandseinsätzen wie in Afghanistan nur noch anwuchsen, sorgte Russlands Besetzung der Krim und spätestens die Invasion am 24. Februar 2022 für ein radikales Umdenken. „Es gab eine Rückbesinnung auf die kollektive Bündnisverteidigung“, sagt Major. Fast alle Partner geben inzwischen mehr Geld für ihr Militär aus, mit Schweden und Finnland haben sich zwei neutrale Staaten angeschlossen, an der Ostflanke zog die Nato so viele Streitkräfte zusammen wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Zusammenarbeit im Kleinen
Krieg zu üben kann erstaunlich banal sein, wie ein Dienstag Mitte Mai demonstriert. „Stellt beim Halten der Waffe sicher, dass ihr nicht das Innere des Helikopters zerkratzt“, ruft der spanische Kommandeur den 22 deutschen Fallschirmjägern auf Englisch zu. „Und lasst genügend Abstand zwischen euch.“ Die Bundeswehrsoldaten marschieren in zwei Reihen in die geöffnete Heckklappe der Chinook CH-47. Dicht gedrängt setzen sie sich auf ihre Plätze, wer angeschnallt ist, streckt den Daumen nach oben.
Dann weist ein Ausbilder die Truppe in die Eigenarten des spanischen Militärhubschraubers ein. Wo ist der Hauptnotausgang? Was bedeutet es, wenn ein „langes, kontinuierliches Klingeln“ ertönt? Die Deutschen sollen erfahren, dass die Gurte anders funktionieren und sich auch die Bestimmungen unterscheiden, wie sie ihr Sturmgewehr G36 zu tragen haben. Mehr als zwei Stunden später erst beginnen die Propeller des Helikopters zu rotieren.
Im rumänischen Siebenbürgen findet an diesem Frühlingstag jene Symbiose statt, die Politiker und Diplomaten im Hauptquartier unter dem sperrigen Begriff Interoperabilität beschwören. Es geht um die Abläufe, die Rüstung, die Planung. Im konkreten Fall will die Allianz erreichen, dass alle – ob Spanier, Rumänen, Niederländer, Deutsche oder Amerikaner – in jeder Maschine mitfliegen können. Die Nato nennt das „force integration training“: Die nationalen Streitkräfte proben vereint Gefechtssituationen.
Stärke zeigen und abschrecken
In der Übung befreien die Truppen unter deutscher Führung einen von Feindkräften eingenommenen Flugplatz. Dafür springen rund 1500 Fallschirmjäger ab. Die größte Luftlandeübung der Nato-Geschichte ist mit voller Absicht beeindruckend. Vor 20 Jahren hätte das vielleicht Militärromantiker zum Schwärmen gebracht, heute haben solche Übungen eine neue Ernsthaftigkeit erhalten. „Jetzt ist es deutlicher, wofür man das alles macht“, sagt der niederländische Brigadegeneral Jelte Groen.
Demonstration der Stärke und Signal der Abschreckung: Die Übung ist Teil des Manövers Steadfast Defender 2024, das im Frühjahr vier Monate lang an der Ostgrenze des Bündnisses stattfand. Im Einsatz: mehr als 90000 Soldaten, rund 50 Kriegsschiffe, 80 Flugzeuge und 1100 Gefechtsfahrzeuge. Es sei „eine klare Botschaft“ an Russland und jeden anderen Aggressor, findet der deutsche Generalmajor Dirk Faust. „Stronger together“, „gemeinsam stärker“, steht auf den Schmuckabzeichen, die viele Soldaten bei der Übung an ihre Uniformen geheftet haben.
Nato: Gefahren drohen auch von innen
Pistorius sitzt im Konferenzraum des deutschen Flügels im imposanten Brüsseler Hauptquartier. Unweit liegt in einer Vitrine der originale Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949. Die gemeinsame Sicherheitsgarantie beruht auf Artikel 5, der besagt, dass eine Attacke auf ein Mitglied ein Angriff auf alle ist. Ja, die Nato stehe so stark wie nie da, sagt Pistorius. Einerseits. „Andererseits muss sie aufpassen, dass sie zusammenbleibt angesichts der unterschiedlichen Interessenlagen, die sich verändern können durch nationale Wahlen“, warnt der SPD-Politiker. Die Gefahren kommen von außen – und von innen.
Das Bündnis, das wissen sie in Brüssel, ist nur stark, so lange es den Musketier-Schwur glaubhaft vermitteln kann. „Wenn sich die 32 Alliierten öffentlich streiten, ist die Abschreckungsbotschaft dagegen geschwächt“, sagt Expertin Major. Stichwort Nuklearmacht Frankreich, wo die Nato-skeptischen Rechtspopulisten bald in der Regierung sitzen könnten. Stichwort Ungarn, das als russlandfreundlicher Quertreiber Hilfen für die Ukraine ablehnt.
Neuer Unsicherheitsfaktor USA
Aber vor allem kreisen die Sorgen um die USA. Ihre Truppen, ihre Schiffe, Drohnen und Raketen und vorneweg ihre Atomwaffen garantieren bis heute Europas Sicherheit. Was würde passieren, wenn der Nato-Schreck Donald Trump im November abermals ins Amt gewählt wird? Er hält die Europäer für Schmarotzer und drohte unlängst damit, Mitglieder nicht vor Russland zu schützen, wenn sie ihre Bündnisverpflichtungen nicht erfüllen.
Dementsprechend versuchen die Partner, zumindest die Unterstützung für die Ukraine von der politischen Wetterlage in Washington abzukoppeln. Trotzdem, die Lücken, die ein Trump möglicherweise aufreißen würde, „können wir nicht füllen“, sagt Major – ob es um die Ukraine oder um Europas Verteidigung geht. Gleichwohl hält sie es für „unwahrscheinlich, dass sich die Amerikaner komplett zurückziehen“.
Aber selbst wenn die Demokraten gewinnen – kann ein US-Präsident die Rolle ausfüllen, der nun 75 Jahre Allianz feiert, aber offenbar kaum 75 Minuten stehen kann? Die Verbündeten treffen beim Gipfel auf einen Joe Biden, der nach seinem desaströsen TV-Auftritt mit Trump um sein Amt und seine Würde ringt. „Die Autorität der USA bestimmt sich durch mehr als die Person des Präsidenten“, versuchte ein hochrangiger Nato-Offizieller zu versichern.
In Washington wird der Geburtstag begangen, auch wenn es eigentlich kein Grund zum Feiern ist, dass die Allianz weiterhin gebraucht wird, um Frieden und Freiheit auf dem Kontinent zu sichern. Oder wie es ein Diplomat kürzlich eingestand: „Wenn die Nato Konjunktur hat, heißt das, dass es der Welt schlecht geht.“
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