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Schlepper auf Balkanroute„Die Schmugglernetzwerke sind mächtiger als je zuvor“

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Eine Gruppe syrischer Migranten frühstückt in einem verlassenen Gebäude, in dem sie Unterschlupf gesucht hatten.

Eine Gruppe syrischer Migranten frühstückt in einem verlassenen Gebäude, in dem sie Unterschlupf gesucht hatten. Die Flüchtlinge wollen über die EU-Grenze nach Kroatien gelangen.

Die Balkanroute wird stärker von organisierten Schleuserbanden kontrolliert, während ehrenamtliche Helfer in Bosnien den Flüchtlingen beistehen. Menschen ohne Mittel sind die Verlierer dieses Wandels.

Hüfthohes Gestrüpp überwuchert den Pfad unweit der verrosteten Gleise. Asim Karabegovic kennt den Weg zu dem verfallenen Wasserturm am Rande der westbosnischen Stadt Bihac – und weiß, wo er seine Schutzbefohlenen zu suchen hat. Mit einem Knarren öffnet der Mitarbeiter der Hilfsorganisation „SOS Balkanroute“ die schwere Metalltüre. Neben Bergen von Müllsäcken und einer verkohlten Feuerstelle findet sich im Obergeschoss an der Wand eine mehrsprachige Botschaft: „Wenn Sie nach Europa reisen möchten, können wir Ihnen helfen. Bitte rufen Sie diese Whatsapp-Nummer an. Danke schön.“

Die Schlepper seien „immer zahlreicher und stets besser organisiert“, erklärt Asim das Phänomen, dass in Bihac trotz der Nähe zur kroatischen Grenze inzwischen kaum mehr Flüchtlinge zu sehen sind. Statt wie früher im Zentrum biwakierten sie nun in Fabrikruinen, Lagerhäusern oder Lkw-Anhängern am Stadtrand: „Die Leute bleiben viel kürzer in Bihac – und in Bosnien.“

Bihac: „Hotspot“ der sich ständig ändernden Balkanroute

Enten watscheln am Ufer der Una durch den Stadtpark. Händchenhaltend schlendert ein Paar an der mit Baugittern verriegelten Ruine vorbei. Als Altersheim mit Blick auf den Fluss war der mächtige Rohbau zu jugoslawischen Zeiten geplant worden. Doch erst stoppte der Bosnienkrieg (1992-1995) die Bauarbeiten. Dann wurde die zum wilden Flüchtlingslager umfunktionierte Bauruine Ende 2017 zum „Hotspot“ der sich ständig ändernden Balkanroute: Tausende von gestrandeten Geflüchteten sorgten in der 40.000 Einwohner zählenden Provinzstadt für einen jahrelangen Ausnahmezustand.

Er habe damals einen Laden unweit des Stadtparks betrieben, erinnert sich der heute 63-jährige Asim: „Die Flüchtlinge fragten mich, ob sie ihre Telefone aufladen könnten, oder baten um etwas Wasser. Bald begann ich, auch Kleidung und Schuhe zu sammeln, die ich ihnen geben konnte.“

Menschen in Not müsse man helfen, so die Überzeugung des inzwischen pensionierten Kaufmanns. Viele seiner damaligen Kunden und Bekannten zeigten für seine Hilfsbereitschaft weniger Verständnis: „Einige hörten auf, bei mir zu kaufen. Andere wandten den Kopf ab, wenn sie mich sahen.“ „Druck“ habe er jahrelang auch von der Polizei verspürt: „Regelmäßig wurde mein Laden kontrolliert und ich für Lächerlichkeiten zu Geldstrafen verdonnert.“

Um die Stadt zu entlasten, richtete die überforderte Kommune im Sommer 2019 auf einer früheren Mülldeponie das Aufnahmelager Vucjak ein. Als „Bosniens Lager der Schande“ sollte das Camp wegen der katastrophalen Bedingungen bald selbst international für Schlagzeilen sorgen: Erst nach einem Hungerstreik der Insassen wurde das Skandallager Ende 2019 geschlossen.

Allein sind nur noch die unterwegs, die kein Geld mehr für Schlepper haben

Als sich der kroatischstämmige Wiener Petar Rosandic mit der von ihm gegründeten Hilfsorganisation „SOS Balkanroute“ vor fünf Jahren in Bihac zu engagieren begann, „hingen die Leute hier monatelang fest, manche gar ein, zwei Jahre“, berichtet der frühere Journalist. „Heute halten sich die meisten im Durchschnitt nur noch zwei bis vier Tage in Bosnien auf.“ Allein und auf eigene Faust seien im Gegensatz zu früher nur noch „die Ärmsten, die Verletzlichsten und die Schwächsten“ unterwegs, die keine Mittel mehr für Schlepper hätten: „Das sind die Leute, um die wir uns vor allem kümmern.“

Verschärfte Kontrollen und mehr Grenzzäune haben seiner Erfahrung nach vor allem die Tarife der Schleppernetzwerke erhöht – und deren Position eher gestärkt als geschwächt: „Die Schmugglernetzwerke sind mächtiger als je zuvor. Sie diktieren, wann wer zu welchem Preis durchkommt. Die Schlepper haben die Deutungshoheit und beherrschen die Route – und das durchgehend.“

Früher kamen die Flüchtlinge zu ihm, nun kommt er zu ihnen: Mit Arabisch- oder Paschtu-Brocken spricht Asim in Bihac die von ihm aufgestöberten Grenzgänger auf Industriebrachen oder an Ausfallstraßen an. Ob Jogginghosen, Milch, Kekse, Schuhe oder Wasserflaschen: Jede Hilfe ist bei den Männern mit den müden Blicken gefragt.

Die meisten der Syrer, Afghanen oder Marokkaner, die Asim hinter dem Busbahnhof von Bihac mit Nahrungsmitteltüten und Kleiderspenden versorgt, können sich längst keinen Schlepper mehr leisten. Die kroatische Polizei habe ihm „erst das Geld und das Telefon abgenommen und dann meinen Rucksack verbrannt“, erzählt der 24-jährige Syrer Abdullah in gebrochenem Englisch.

Leute „systematisch getreten und geschlagen“

„Perverse“ Exzesse der kroatischen Polizei wie Folterungen oder das Besprühen von Köpfen mit Kreuzen seien beim illegalen „Pushback“, dem gewaltsamen Abdrängen von Flüchtlingen über die grüne Grenze, zwar seltener geworden, so Rosandic. Doch es sei „schlimm genug“, dass die Leute weiter „systematisch getreten und geschlagen“ und ihrer Habseligkeiten beraubt würden.

Dankend nehmen fünf Afghanen am Wasserturm die ihnen von Asim überreichten Hilfsgüter entgegen. „Genauso wichtig“ wie Nahrungsmittel und Kleidung sei für viele auch, „dass man mit ihnen redet und sie anlächelt“, sagt Rosandic und klagt über die „Entmenschlichung“ beim Umgang – und in der Migrationsdebatte: „Über Geflüchtete wird nun noch in Bedrohungsszenarien gesprochen. Über das Schicksal dieser Menschen verliert kaum mehr jemand ein Wort.“

Nebelschwaden stehen über den Wäldern der umliegenden Hügel. Still trotten einige junge Männer zur Frühstücksausgabe. Ton- und Fotoaufnahmen seien in der abgezäunten Container-Siedlung nicht gestattet, sagt die blonde Polizistin, die Besucher durch das Aufnahmelager Lipa lotst. 1500 Plätze betrage die Kapazität des Lagers, derzeit seien „300, 400“ belegt, so die Beamtin. Im Sommer sei das Camp „fast leer“, im Winter voller: „Die Leute ruhen sich hier vor der Weiterreise etwas aus – oder erholen sich von ihren Verletzungen.“ Die durchschnittliche Verweildauer liege bei „vier, fünf Tagen“: „Die Grenze ist hier zu weit weg. Darum bleiben sie nicht lange.“

Bis zu 100 Euro nehmen Taxifahrer für die Fahrt in das abgelegene Lager

Es wirkt fast, als sollten Aufnahmewillige erst gar nicht kommen. Die einstigen Läden vor dem Lagertor sind längst verfallen – und verriegelt. Bis zu 100 Euro nehmen Taxifahrer für die Fahrt von der Stadt in das abgelegene, für Flüchtlinge ansonsten nur zu Fuß erreichbare Lager: Auf Drängen der EU wurde Lipa im Frühjahr 2020 rund 25 Kilometer entfernt von Bihac angelegt. Zunächst als Notlösung während der Pandemie gedacht, sollte das damals keineswegs winterfeste Zeltlager bald ins Gerede geraten. Am Tag, als die UN-Flüchtlingsorganisation IOM im Dezember 2020 die Räumung des Lagers beschloss, wurde es von Unbekannten in Brand gesteckt.

2021 wurde Lipa mithilfe von EU-Geldern zwar in eine beheizbare Containersiedlung umgebaut. Doch der Bau eines umstrittenen Gefängnistrakts sollte das Camp erneut in die Schlagzeilen katapultieren: Die „SOS Balkanroute“ warf der EU vor, in Lipa klammheimlich ein Abschiebegefängnis installieren zu wollen – und warnte vor einem „Guantánamo“. Mittlerweile hat Bosniens Minister für Menschenrechte versichert, dass der offenbar ohne Baugenehmigung errichtete Gefängnistrakt nie in Betrieb gehen werde.

Hell gleißt die Herbstsonne über dem Friedhof von Bihac. Als Schattengänger auf der Balkanroute wurden sie zu Lebzeiten kaum bemerkt. Doch zumindest nach ihrem Tod haben die Grenzgänger auf dem Gottesacker ihre Spuren hinterlassen: 17 Gräber von in Bihac ums Leben gekommenen Geflüchteten sind mithilfe der „SOS Balkanroute“ überholt und mit Grabsteinen versehen worden.

Egal, ob auf den Gräbern der unbekannten Toten „NN – no name“ verzeichnet ist oder ob auf den Steinen die Namen der identifizierten Verstorbenen stehen: Von jedem der bestatteten Flüchtlinge kennt Asim Karabegovic zumindest die Todesursache. Ob die Verstorbenen im Schlaf verbrannten, von einem Lkw überrollt wurden, bei Unfällen ihres Schlepperkombis starben, bei der Grenzpassage ertranken, ermordet oder von einem Jäger versehentlich erschossen wurden: Jeder Fall sei dokumentiert, so Asim. „Wenn irgendwann Angehörige hier ihre Söhne oder Brüder suchen sollten, haben wir zu jedem Grab alle Informationen gesammelt.“

Alle hier bestatteten Toten seien schließlich Menschen gewesen, „die auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Leben verloren“, erläutert Asim, warum er sich nicht nur um lebendige, sondern auch um verstorbene Geflüchtete kümmert. „Das waren Menschen wie wir. Sie dürfen nicht einfach wie Tiere verscharrt und vergessen werden. Sie verdienen Würde – und ein Grab.“