Das Stück „Balkan Drift“ von Ivana Sokola beschäftigt sich mit jenen, die in der Heimat zurückbleiben mussten.
Premiere im Schauspiel Köln„Balkan Drift“ erzählt von der anderen Seite der Migration
„Warum sollten ausgerechnet meine Wünsche wahr werden?“, fragt Minka ihre Schwester. „Weil hier zumindest noch gewünscht werden kann“, antwortet Martha.
„Hier“, das ist irgendwo in einer der hintersten Tristessen Ex-Jugoslawiens, ein Nirgendwo, das auf der Bühne des Depot 2 als ein heruntergekommenes, mit Zivilisationsmüll gespicktes Stück Strand eingerichtet ist (Bühne: Maximilian Lindner).
Kehrseite der Migrationsmedaille
Mit „Balkan Drift“, einer Auftragsarbeit fürs Schauspiel Köln, erzählt Autorin Ivana Sokola von der anderen Seite der Migrationsmedaille: von all jenen, die zurückgeblieben sind und denen Stücke des Erfolgskuchens von Verwandten auf Heimaturlaub gönnerhaft zugesteckt worden sind.
Und einer dieser Verwandten kehrt zurück, um dauerhaft zu bleiben: Der Onkel der Schwestern, dessen Leiche ihr Cousin herankarrt, seines Zeichens im glückverheißenden Norden geboren und verwurzelt. Die jungen Frauen mögen sich doch bitte um die Beerdigung kümmern. Sagt's, diskutiert ein bisschen rum und entschwindet.
Abdriften ins Irreale
Weil dies ein Verhalten jenseits der Nachvollziehbarkeit darstellt, dreht die Autorin nun gehörig an der Schraube des Realitätsverlustes: Mit der Leichenkiste im Schlepptau treffen die Schwestern auf ein liegendes Pferd, landen in einer von Pflanzen überwucherten Shoppingmall, verstecken sich vor einem Mann mit einem Metalldetektor, um schließlich der Leiche zu Leibe zu rücken (und an dieser Stelle rutscht der Abend vom Fantastisch-Gruseligen ins unnötig Eklige).
Im Verlauf dieser Reise wird die Geschichte der Schwestern nach und nach aufgedeckt: die Trauer der von ihrem Bruder zurückgelassenen Mutter, der gescheiterte Versuch Minkas, selber im Norden ein besseres Leben zu finden, und die ungewollte und schließlich abgebrochene Schwangerschaft Marthas.
Orte, von den man fliehen will
Wünsche und Träume, aufgerieben zwischen üppigen Illusionen und der kargen Wirklichkeit des realen Post-Sozialismus – der hier nur als Pars pro Toto steht, als ein möglicher Teil aller Orte, die mehr zur Flucht auffordern, als dass sie zum Bleiben einladen. Ganz schön viel, was da gut 100 Minuten in einer Godot-ähnlichen Konstellation verhandelt wird.
Regisseurin Jana Vetten schöpft dazu reichlich aus dem Fundus des Regietheaters, verlegt ohne schlüssigen Grund die Handlung von der (aus dem Off von Katharina Schmalenberg) beschrieben Bushaltestelle an jenen kümmerlichen Strandabschnitt, lässt später großzügig Plastikmüll über die Bühne streuen. Das lässt vielleicht Raum für Gedankenspiele, bietet aber keine Stütze beim Erklimmen des Textgebirges.
Starkes Schauspiel-Trio
Lou Friedmann (als Minka) und Kristin Steffen (als Martha) arbeiten sich tapfer und energiegeladen an dem überbordenden Text ab, ihnen kann nicht zu Last gelegt werden, dass man beim Zuschauen hin und wieder dann doch mal den Faden verliert.
Wesentlich leichter hat es Nicolas Streit, der gleich vierfach brillieren darf – und das auch ausgiebig auskostet: als schnöseliger Cousin, keifende Leiche, verstrahlter Metallsucher und ganz besonders als Pferd. Diesem schimmernden Tiefsee-Einhorn mit der Attitüde einer Drag Queen möchte man den ganzen Abend zusehen. Vielleicht gibt's im Budget noch Kapazität für einen Auftrag für einen weiteren Text?
105 Minuten (keine Pause). 6.10., 18 Uhr, 13.10, 5. und 14.11., jeweils 20 Uhr.