In Sozialen MedienIst politisch sein die neue Form der Selbstdarstellung?
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Köln – Normalerweise beginnt so ein Text mit einem Beispiel. Jemand sagt und tut etwas und gibt den Startschuss für die kommenden Zeilen. Aber weil es in diesem Text um Instagram und Facebook geht, wäre wohl jede Szene veraltet. Die Sozialen Medien sind mehr denn je Orte, an denen politische und gesellschaftliche Themen in weniger als 24 Stunden von genau zwei Seiten betrachtet, besprochen, in Zitate und Kacheln gepresst und unverdaut wieder ausgespuckt werden. Egal, ob dieser Text also mit pinken Handschuhen für Tampons oder der Bombardierung des Gazastreifens (Team #GazaUnderAttack oder Team #IsraelUnderAttack?) beginnt, Sie als Leserinnen und Leser würden denken: Das ist doch schon mindestens drei Shitstorms, vier Empörungswellen und gute 568 Insta-Stories her.
Deshalb steht hier eine grundsätzlichere Frage: Seit wann ist Instagram so politisch? Eigentlich waren Soziale Medien bei allen edlen Gemeinschaftsgedanken und den tollen Möglichkeiten, mit Menschen in Kontakt zu bleiben, die man ohnehin nie wieder sehen wird, doch hauptsächlich eins: Selbstdarstellung. Mein Wanderurlaub, meine Familie, meine Veggie-Bowl. Und nun: meine Meinung zum Nahostkonflikt.
Vom Kontakt- zum Diskussionsraum
Neu ist das nicht. Die Veränderung vom Kontakt- zum Diskussionsraum ist eine Entwicklung, die schon länger zu beobachten ist, sagt der Medienpsychologe Stephan Winter. Erst zeigten wir uns Urlaubsbilder, dann kamen langsam die Nachrichten und mit ihnen politische Akteure, die in den sozialen Netzwerken strategisch ihre Botschaften streuen. Aber wer an diesen kein Interesse hatte, konnte sich entziehen. Das geht mittlerweile nicht mehr.
Ein vorläufiger Höhepunkt des digitalen politischen Bekenntnis waren wohl die Millionen schwarzen Kacheln unter dem Hashtag #BlackLiveMatters. Mit ihnen solidarisierten sich Menschen vor einem Jahr weltweit mit dem ermordeten schwarzen US-Amerikaner George Floyd. Die schwarze Kachel hieß: Ich erzähle heute nicht über mein Leben, sondern höre antirassistischen Aktivisten zu. Wollen wir uns online gar nicht mehr selbstdarstellen, sondern die Welt verbessern? Naja, wir wollen am liebsten beides, sagt Professor Winter von der Universität Koblenz-Landau. „Politische Meinungsäußerung ist oft auch Selbstdarstellung. Wenn ich mich für etwas engagiere, dann will ich das meinen Freunden auch zeigen.“
Aber das sei außerhalb des Internets nicht anders. Der Besuch einer Demonstration oder die Mitarbeit in einer NGO sei auch oft ein soziales Event und nicht nur ein selbstloser Akt, sagt Winter. Politische Haltung ist von Beziehungen geprägt, nicht nur von Informationen. Winter beobachtet dabei eine Art Selbsteffekt. Dadurch, dass ich eine politische Meinung – die mir plausibel erscheint – mit einem großen Publikum teile, nehme ich sie selbst eher an. Wir wollen uns also politischer darstellen – und sind es dann womöglich tatsächlich.
Gratismut oder Propaganda
Schaut her, Freunde, Kollegen und entfernte Verwandte: Ich fahre Zug, trinke den Kaffee mit Mandelmilch und teile Posts von Fridays for Future. Ich bin ein Klimaretter. Mit unverfänglichen Themen wie der Erhaltung des Planeten, gegen die ja eigentlich kein vernünftiger Mensch etwas haben kann, funktioniert das gut. Mit Themen wie dem Nahostkonflikt eher nicht. Die Rapperin Shirin David teilte für ihre 5,5 Millionen Follower einen antisemitischen Comic, in dem sich zwei Frauen scheinbar neutral über die jüngste Eskalation zwischen Israel und Palästina unterhalten. Harsche Kritik folgte sofort. Die Autorin Sophie Passmann, die vielen Nutzern mit einem Instagram-Video bekannt wurde, in dem sie ihre Brief-Wahlunterlagen auspackt, schreibt dazu im Zeit-Magazin: „Was sich auf Instagram als Politik ausgibt, ist oft eins von beiden: Gratismut oder Propaganda.“
Aber wie soll man bei all den extrem wichtigen Themen wissen, wer eine Agenda hat und wer neutral informiert? Sind gerade die geschredderten Küken in Brandenburg oder die inhaftierten Uiguren in Xinjiang wichtiger? Die Suche nach Orientierung endet oft in Diana zur Löwens Postfach. Täglich bekommt die 26-Jährige auf Instagram dutzende Nachrichten mit der Bitte, sie möge sich zu einem bestimmten politischen Thema äußern. „Die Reichweite nutzen“ nennen Internetprofis wie zur Löwen das. Sie ist eine der erfolgreichsten Influencerinnen Deutschlands, etwa eine Millionen Menschen schauen sich ihr Leben bei Instagram an. Zur Löwen startete mit Mode- und Kosmetiktipps, verdiente ihr Geld, indem sie über Produkte sagt, dass sie sie benutzt und toll findet. Das kann man verwerflich und oberflächlich finden. Oder anerkennen, dass zur Löwen auf ihre Art politische Bildung für Einsteiger macht. „Ich bin irgendwo zwischen Aktivismus und Kapitalismus“, sagt die 26-jährige, wenn man sie fragt, wie politisch sie sich selbst sieht. Gestartet ist ihr Engagement vor der Europawahl 2019 mit der Erkenntnis: Ich weiß nichts über die EU. Scheint aber irgendwie wichtig zu sein. Sie wurde selbst politisch interessierter – und zeigt diese Entwicklung in ihren Social-Media-Inhalten.
Das Private wird politisch
Mittlerweile bespricht sie auf ihrem Kanal regelmäßig feministische und nachhaltige Themen, oft im Interview mit Experten. Auch Anti-Rassismus liege ihr am Herzen. „Ich suche mir nicht die Trends raus und poste dazu irgendetwas. Ich schaue: Wo liegen die Probleme und worüber muss man aufklären.“ Schwer zu sagen, wo für sie der Unterschied liegt. Denn genau zur Löwens rausgesuchte Probleme sind nun einmal Teil eines linksliberalen Mainstreams. Um noch einmal Sophie Passmann zu zitieren: „Der Zeitgeist erlaubt es nicht mehr, einfach nur fröhlich, talentiert oder hübsch zu sein.“ Eine kritische Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Ordnung, „woke“ sagen die Amerikaner, ist längst Standard. Das Private ist halt mal wieder politisch. Jeder Fashion-Influencer muss sich im Zweifel die Frage gefallen lassen, in welcher Fabrik sein Hemd produziert wurde und wie viele Flugmeilen und Co2-Tonnen diese entfernt ist. Dann lieber gleich einen nachhaltigen Lifestyle promoten.
„Ein Thema teilen, heißt noch nicht, dass man sich auch wirklich damit beschäftigt“, sagt auch Stefan Marshall, Professor für vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Düsseldorf. Aber für ihn ist erst einmal wichtiger, dass die Menschen online überhaupt auf Politik und nicht nur auf Unterhaltung treffen. „Für uns ist immer die große Frage: Wie erreichen wir die, die sich nicht für Politik interessieren?“ Politisches Interesse ist in unserer Gesellschaft seit Jahrzehnten ähnlich verteilt wie Geld: Auf Herkunft und Bildung kommt es an. Und gerade darin, dass in den Sozialen Medien jeder kostenlos Meinungen verbreiten kann, liegen für Marshall die Chancen für mehr Beteiligung. „Wir müssen konstruktiv rangehen und lieber überlegen, wie wir politische Diskussionen online besser machen können.“
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Mit Blick auf den Anfang dieses Textes heißt das: Wir müssen langsamer werden mit unseren Meinungen. Kein Problem hat nur zwei Seiten und niemand zwingt uns, uns im Akkord zu positionieren. Und: Es ist in Ordnung, zu etwas keine Meinung zu haben. Ein paar Empörungswellen auszulassen – ohne dass das Selbstbild gleich leiden muss. Und die gute Nachricht aus der Wissenschaft: Menschen, die online mitdiskutieren, beteiligten sich mit größerer Wahrscheinlichkeit an Wahlen. Und das geht in Deutschland nur analog.