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Reportage aus dem verwaisten ItalienWie sich die kollektive Quarantäne anfühlt

Lesezeit 5 Minuten
Italien

Brescia: Patienten liegen in einer Halle in Krankenbetten. Italien verzeichnet von allen europäischen Ländern die weitaus meisten Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus und die meisten Todesopfer. 

  1. Seit Dienstag ist ganz Italien ein Sperrgebiet.
  2. Verwaiste Straßen, leere Geschäfte. Eindrücke aus der kollektiven Quarantäne.

Wenn Mario Franchi auf etwas nur schwer verzichten kann, dann ist es der Cappuccino am Morgen in der Bar. Der 69-Jährige lebt in Udine ganz im Nordosten Italiens. Als er am Dienstagmorgen gegen 8 Uhr vor seiner Stammbar hinter der Piazza San Giacomo stand, versicherte sich der Italiener erst einmal, ob sonst noch jemand im Inneren des Lokals war. „Bis auf die zwei Barangestellten war niemand drinnen, also bin ich eingetreten und habe auch heute meinen Cappuccino getrunken“, erzählt Franchi zufrieden. Das Getränk hatte diesmal aber einen sonderbaren Beigeschmack. „Es war surreal“, sagt Franchi. Und anders als sonst: Stille in einer italienischen Bar, wo sich normalerweise das Klappern des Geschirrs und das lautstarke Gerede der Menschen zu einem bezaubernden akustischen Flair vermischt.

Von einem auf den anderen Tag ist Italien ein ruhiges, allzu ruhiges Land geworden. Die Republik, die mit ihrer Lautstärke gleichzeitig bezirzt und nervt, ist wie in Watte gebauscht. Auch in Rom sieht man nur wenige Menschen auf der Straße, Geschäfte sind offen, aber leer. Vor der Post stehen Menschen mit Mundschutzmasken an. Busse fahren, sind aber weitgehend unbesetzt. Die unwirkliche Stille und die gedämpfte Akustik erinnern an den letzten Schneefall in der Stadt, auch da kam das öffentliche Leben kurz zum Erliegen. Diesmal aber lässt die Schmelze auf sich warten.

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Ein Mann trägt eine Mundschutzmaske, während er auf den leeren Petersplatz schaut

„Wir müssen unsere Lebensgewohnheiten verändern“Der Lärm u nd die Lebendigkeit, die Italien zu einem großen Teil ausmachen, sind wie ausgelöscht, seit Ministerpräsident Giuseppe Conte am Montagabend die ganze Republik wegen der Ausbreitung des Coronavirus zum Sperrgebiet erklärte. „Io resto a casa“ (Ich bleibe zuhause), so taufte der Premier das Dekret, das er am Montag unterschrieb und die Quarantänezone, die bisher die Lombardei und 14 andere Landkreise im Norden umfasste, auf ganz Italien ausweitete.

Ansturm auf Krankenhäuser verhindern

„Leider haben wir keine Zeit mehr“, sagte Conte. Die Zunahme der Ansteckungen mit dem Coronavirus, die steigende Zahl der Intensiv-Patienten, die Todesfälle, all das führte der Ministerpräsident an, um zum entscheidenden Satz zu kommen: „Wir müssen unsere Lebensgewohnheiten verändern und zwar jetzt.“ Es geht darum, den Ansturm auf Krankenhäuser zu verhindern, wenn viele an Covid-19 Erkrankte gleichzeitig ärztliche Hilfe benötigen.

Die Regierung setzt auf eine Verlangsamung der Ansteckungen. Seit Dienstag ist es den rund 60 Millionen Italienern deshalb nur unter drei Bedingungen erlaubt, das Haus zu verlassen: aus gesundheitlichen Gründen, etwa wenn man dringend zum Arzt oder ins Krankenhaus muss; wegen unaufschiebbarer Arbeitsverpflichtungen, weil die Arbeit (zum Beispiel als Arzt) wirklich wichtig ist; oder aus „sonstigen Zwängen“; dazu zählt zum Beispiel der zweifellos notwendige Einkauf für den Haushalt. Der Cappuccino am Morgen eher nicht. Offiziell ist eine amtliche Erklärung für jeden Ausgang abzugeben, de facto passiert das nicht.

Verzicht auf das normale Leben und Verantwortungsbewusstsein

„Die Polizei sieht man nicht in Udine“, erzählt Franchi. In anderen Städten gibt es zwar Polizeistreifen. Regelrecht kontrolliert werden aber nur große Ein- und Ausfallstraßen, Bahnhöfe und Flughäfen. Wie soll es auch anders gehen in einem so großen Land? Es ist nicht ausgeschlossen, dass Italien bereits ein Szenario erlebt, wie es in Deutschland oder Österreich erst noch Wirklichkeit werden könnte.

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Verzicht auf das normale Leben und Verantwortungsbewusstsein. Das ist viel verlangt für eine offene Gesellschaft. Die Angst geht um. Noch am Montagabend stürzten Hunderte Menschen in die Supermärkte, um sich für die Quarantäne vorsorglich einzudecken. Auch der normale politische Betrieb ist betroffen. Das Parlament in Rom kommt nur noch einmal pro Woche zusammen, dieser Tage soll ein Zehn-Milliarden-Euro-Paket mit Wirtschaftshilfen verabschiedet werden. Am Dienstag ließ der Vatikan sogar den Petersplatz und den Petersdom in Rom für das Publikum sperren.

Die Lage im Norden spitzt sich immer weiter zu

Auch von außen wird Italien nun zunehmend isoliert. Das Berliner Robert-Koch-Institut stufte Italien am Dienstag komplett als Risikogebiet ein. Die Bundesregierung und Großbritannien rieten von Reisen nach Italien ab. Österreich kündigte an, Reisende aus Ital ien an der Grenze zu stoppen und nur mit ärztlichem Attest einzulassen. Spaniens Regierung verbot alle Direktflüge von und nach Italien. British Airways, Norwegian Airways und Ryanair stellte alle Flüge von und auf die Apenninenhalbinsel ein.

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Polizisten stehen vor der leeren Spanischen Treppe. 

Im Norden spitzte sich die Lage am Dienstag weiter zu. „Weitere 15 bis 20 Tage mit einer solchen Zunahme der Patienten in der Ersten Hilfe und auf den Intensivstationen bewältigen wir nicht“, sagte Giulio Gallera, der für Soziales zuständige Referent der Region Lombardei. Am Montag wurden in der Region 550 Patienten in die Krankenhäuser eingeliefert. Die Behörden erwogen am Dienstag die komplette Schließung aller Büros, Verkehrsmittel und Geschäfte, abgesehen von Supermärkten und Apotheken. Die nächste Stufe der Abschottung steht bevor.

Alte Menschen besonders betroffen

Anruf bei Mario Franchis 92-jähriger Mutter Maria im römischen Stadtviertel Prati. Signora Franchi ist eine lebensfrohe Süditalienerin, die als Kind die Mussolini-Diktatur und den Krieg erlebt hat. Aber eine staatlich auferlegte Quarantäne ist auch für die 92-Jährige, neu. „Ich gehe seit Tagen nicht mehr aus dem Haus“, sagt sie resigniert. Alte Menschen sind durch Covid-19 besonders gefährdet. Ihre Tochter besorgt die Einkäufe, geht noch ab und zu arbeiten und hält die Kontakte zur Außenwelt. Die sind allerdings deutlich weniger geworden. Die Familie verständigt sich per Video-Telefonat.

Auch Treffen unter Freunden oder Verwandten sind untersagt. Nicht nur sind Schulen und Universitäten bis mindestens 3. April geschlossen. Bars und Restaurants machen ab 18 Uhr zu. Auch die Spiele der Fußballliga Serie A wurden abgesagt, ein Sakrileg für die fußballverrückten Italiener. Ein ausgesprochen soziales Volk sieht sich vor eine schwere Probe gestellt: Es muss auf seine Geselligkeit verzichten. Für wie lange, kann derzeit niemand absehen.