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Kölner Apotheker„Wir hatten noch nie so viele fehlende Medikamente wie in diesem Jahr“

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Portrait von Thomas Preis

Thomas Preis, Chef des Apotheker-Verbandes Köln und Nordrhein.

Wir erklären, woher Engpässe kommen, warum ein Lieferengpass kein Versorgungsengpass ist. Und wie Patienten trotzdem Medikamente bekommen.

Mehr als 500 Lieferengpässe: So viele Medikamente sind laut Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArm) und Medizinprodukte Anfang Dezember in Deutschland nicht verfügbar. „In Wirklichkeit sind das noch viel, viel mehr“, sagt Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein. „Wir sind noch nie mit so vielen Lieferdefekten in die kalte Jahreszeit gestartet wie in diesem Jahr.“

Ein Lieferengpass liegt nach Definition des BfArm vor, wenn ein Arzneimittel länger als zwei Wochen nicht im üblichen Umfang verfügbar ist. Die Liste, so Preis, sei allerdings gar nicht vollständig. Einige Medikamente seien dort gar nicht gelistet, zudem sei die Meldung eines Engpasses hierzulande freiwillig. Seine Beobachtungen: „Gegenüber dem letzten Winter haben sich die Zahlen bei den Lieferengpässen um über 30 Prozent erhöht.“ Den Eindruck haben auch Ärztinnen und Ärzte: „Die Rückmeldungen von den Kolleginnen und Kollegen legen nahe, dass sich die Lage im Vergleich zu vergangenem Jahr eher weiter zugespitzt hat“, sagte die Co-Vorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Nicola Buhlinger-Göpfarth, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Thomas Preis steht in einer Apotheke

Die Mängelliste ist lang, „aktuell ist fast jedes zweite Rezept betroffen“, so der Apotheker Thomas Preis.

Die Engpässe erstrecken sich auf alle Arzneimittelgruppen. „Medikamente für Erwachsene, für Kinder, Tropfen, Tabletten, Injektionen. Und auch Blutdruckmittel, Cholesterinmittel, Fiebermittel, Psychopharmaka, Insuline, Medikamente zur Behandlung von HIV“, zählt Preis auf. Besonders ärgerlich findet er, dass es zu Beginn der Infektionswelle wieder Schwierigkeiten mit Antibiotika für Kinder gibt. „Das ist der Mangel, der am meisten weh tut. Wenn kleine Menschen krank sind, dann will und muss man ihnen so schnell und gut es geht mit den besten Mitteln helfen.“

Apotheker: Fast jedes zweite Rezept ist von einem Engpass betroffen

Die Mängelliste ist lang, „aktuell ist fast jedes zweite Rezept betroffen“, so Preis. Das heißt jedoch nicht, dass die Hälfte aller Patientinnen und Patienten die Apotheke mit leeren Händen wieder verlässt. „Niemand geht unversorgt aus einer Apotheke“, verspricht Thomas Preis. Tritt ein Lieferengpass auf, suchen die Apotheken nach einer gleichwertigen Alternative, sprich: gleicher Wirkstoff, gleiche Dosierung. „Aufgrund ihrer pharmazeutischen Fachkompetenz wissen Apothekerinnen und Apotheker, welche Medikamente man austauschen kann“, so Preis.

Ist auch die Alternative nicht zu bekommen, „müssen wir Rücksprache mit den Ärzten nehmen. Das kostet die Ärzte viel Zeit, die Apotheken viel Zeit und auch die Patientinnen und Patienten müssen Geduld mitbringen“, sagt Preis. Er sieht die Teams in den Apotheken an der Belastungsgrenze, weil sie immer häufiger nach Alternativen suchen müssen. Und so dafür sorgen, dass aus einem Lieferengpass kein Versorgungsengpass entsteht. „Jeder Lieferengpass verursacht sehr viel Arbeit in den Apotheken.“ Und weil parallel der Fachkräftemangel auch vor Apotheken nicht Halt macht, kommt Preis zu dem Schluss: „Wir benötigen die Unterstützung des Staates.“

Viele Medikamente werden in Indien und China produziert

Zumal es kaum Aussicht auf Besserung gibt. Die Tendenz beim Medikamentenmangel zeigt Richtung Regallücke. Im August des vergangenen Jahres waren in der Lieferengpass-Liste des BfArM noch knapp 270 Einträge zu finden, keine anderthalb Jahre später sind es über 500.

Apotheker Preis sieht die Gründe für die aktuelle Situation unter anderem in der Infrastruktur der Pharmaindustrie, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut hat. So habe es eine Zentralisierung der Herstellung in Indien und China gegeben. Lokale Krisen dort können sich schnell auf einen Großteil der Medikamentenproduktion auswirken. Gibt es nur noch wenige Hersteller, ist ein Problem bei nur einem Produzenten weltweit zu spüren. Und globale Lieferketten sind fehleranfälliger als kurze Wege.

Apotheken können auch Medikamente mit ausländischem Beipackzettel verkaufen

Die Politik scheint zumindest einige Fehler im System erkannt zu haben, versucht, mit Gesetzen gegenzusteuern. Auf europäischer Ebene plant Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides, bestimmte Medikamente EU-weit gemeinsam zu beschaffen. So könnten Mitgliedsstaaten bei Engpässen auf gemeinsame Vorräte zurückgreifen. Dazu müssen auch regulatorische Hürden aus dem Weg geräumt werden, zum Beispiel, dass die Packungsbeilage zwingend in der Landessprache verfügbar sein muss.

Dass ein Medikament nicht mit einem deutschen Beipackzettel ausgestattet sein muss, gilt hierzulande bereits seit Ende Juli. Mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz trat diese Regelung in Kraft. Auch hier sieht Preis Mehrarbeit auf die Apotheken zukommen. Arzneimittel ohne deutschsprachigen Beipackzettel müssen noch genauer erklärt werden. Allerdings ist ein fremdsprachiges Medikament natürlich erstmal besser als gar kein Medikament.

Apotheker: In den nächsten 20 Jahren „30 Prozent mehr Medikamente“

Weitere Punkte des Gesetzes: Die Austauschmöglichkeiten für Apotheker wurden vereinfacht, strikte Preisregularien vor allem für Kinderarzneimittel gelockert. Und die Produktion von Wirkstoffen in der EU soll gefördert werden. Für akut schnelle Besserung hat das alles noch nicht gesorgt. „Die Lösungen sind alle mittel- bis langfristig gedacht. Wir gehen davon aus, dass das grundsätzliche Problem nicht in diesem und auch nicht im nächsten Jahr geklärt sein wird“, befürchtet Preis.

Doch die Zeit drängt. Nicht nur die Zahl der Medikamente mit Lieferengpass ist seit dem vergangenen Jahr angestiegen. Ein weiteres Problem kommt hinzu: „In Deutschland und auch in anderen Ländern werden die Menschen immer älter. Und weltweit werden immer mehr Medikamente abgefragt“, sagt Preis. Die Demographie stellt die Gesundheitsversorgung vor eine Herausforderung. „Unsere Berechnungen gehen dahin, dass wir in den nächsten 20 Jahren 30 Prozent mehr Arzneimittel abgeben werden. Bei den Über-70-Jährigen sind es sogar 70 Prozent mehr“, so Preis.

Neues Rezept rechtzeitig verordnen lassen

Zurück in die Gegenwart: Was sollten Verbraucherinnen und Verbraucher angesichts der aktuellen Lieferengpässe tun? Thomas Preis rät, „gerade auch mit Blick auf die Feiertage, nicht bis zur letzten Tablette zu warten, bis man sich ein neues Rezept verordnen lässt.“ Lieber sollte man frühzeitig zum Arzt zu gehen, das Rezept dann direkt in der Apotheke vorzulegen. Dann bleibe im Falle eines Engpasses genügend Zeit, nach Alternativen zu suchen.

Der Apotheker setzt auch auf die Gesundheitskompetenz der Menschen, um Arztpraxen und Apotheken zu entlasten. „Bei vielen Erkrankungen muss man wirklich überlegen: ‚Gehe ich in die Arztpraxis, oder mache ich eine Selbsttherapie?‘ Das ist ein wichtiger Beitrag, das Gesundheitssystem handlungsfähig zu halten, für die wirklich schwierigen Fälle. Man muss nicht wegen jedem Husten und Schnupfen zum Arzt gehen.“