Köln – Die Corona-Infektionszahlen steigen unaufhörlich. Überall – und damit auch in den Kindergärten. Für Familien bedeutet das einen neuerlichen Höhepunkt im nicht enden wollenden Pandemie-Stress. Weil in vielen Kindergärten nur noch eingeschränkte Betreuungszeiten angeboten werden können oder einzelne Gruppen gleich ganz geschlossen werden müssen. Das verwirbelt Tagesabläufe, Arbeitsmöglichkeiten und Spielkontakte.
Psychischen Stress bereitet vielen Familien aber auch, dass eine Infektion der Kleinsten in unserer Gesellschaft nun kaum noch vermeidbar scheint. Eine Durchseuchung dieser Altersgruppe mit der Omikron-Variante steht wohl bevor und konfrontiert Eltern immer dringlicher mit der Frage: Wäre es nicht doch besser, die Dreijährige gegen Corona impfen zu lassen, auch wenn die gängigen Impfstoffe bislang nicht für Kleinkinder zugelassen sind?
„Am besten bei den wahren Impf-Nerds erkundigen“
Der Bonner Kinder- und Jugendmediziner Axel Gerschlauer, im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Sprecher des Landesverbandes Nordrhein, hat da eine klare Haltung und holt ein bisschen aus bei seiner Antwort auf diese Frage: Wer etwa in der Mathematik nicht recht weiterkomme, hole sich ja gern' Hilfe beim größten Mathe-Schlaumeier der Klasse, sagt er. Und in Sachen Corona-Impfung schade es nicht, das ähnlich zu handhaben, sich also bei den wahren Impf-Nerds zu erkundigen – den Mitgliedern der Ständigen Impfkommission.
„Bei der Stiko sitzt – um im Bild zu bleiben – eine Bande von Voll-Nerds, die lieben Impfungen und können die zugehörigen Studien bestens deuten“, so formuliert es Gerschlauer: „Wenn die Leute, die immer gern Ja sagen zum Impfen, nicht explizit dazu raten, dann sollte man es besser lassen.“
Nur eingeschränkte Empfehlung für Fünf- bis Elfjährige
Von der Stiko gibt es bislang nur eine eingeschränkte Empfehlung zur Corona-Impfung bei den Fünf- bis Elfjährigen – Kinder mit Vorerkrankungen sollten nach Ansicht der Experten aufgrund eines erhöhten Risikos für einen schweren Covid-19-Verlauf geimpft werden. Bei gesunden Kindern dieser Altersgruppe könne eine Impfung „bei individuellem Wunsch von Kindern und Eltern bzw. Sorgeberechtigten nach ärztlicher Aufklärung“ ebenfalls erfolgen. Für jüngere Kinder gibt es weder ein Sollten noch ein Können – für sie wurde bislang nicht mal ein Impfstoff zugelassen.
Dafür ist die Europäische Arzneimittelbehörde (Ema) zuständig. Sie hat den Biontech-Impfstoff Comirnaty im vergangenen November mit einer reduzierten Dosis für Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren zugelassen – und damit Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Impfung bestätigt. Die Stiko bewertet dagegen das Nutzen-Risiko-Verhältnis und kam zu dem Schluss, dass für Kinder ohne Vorerkrankungen „nur ein geringes Risiko für eine schwere Covid-19-Erkrankung, Hospitalisierung und Intensivbehandlung“ bestehe, weshalb man für diese Altersgruppe keine allgemeine Impfempfehlung ausspreche.
Beim Impfen ist die Risiko-Nutzen-Analyse entscheidend
Die Risiko-Nutzen-Analyse sei beim Impfen entscheidend, betont der Bonner Mediziner Gerschlauer. Welche möglichen Schäden kann eine Impfung anrichten und was bringt sie dem Geimpften? Bei Corona, und ganz besonders bei Omikron, das „keine super ekelhafte Virus-Variante“ sei, sieht Gerschlauer das so: „Die Krankheitslast bei den Futzis im Kleinkindalter ist wahnsinnig gering.“ Das bedeute, dass der Nutzen einer Impfung entsprechend niedrig sei. Die Risiken mögen auch nicht besonders hoch sein: „Für seltene und sehr seltene Nebenwirkungen sind sie aber derzeit noch nicht einschätzbar.“
Etwa einmal pro Woche werde er in seiner Praxis gebeten, Unter-Fünfjährige zu impfen. Nicht besonders oft, da er als „Stiko-Fanboy“ bekannt sei und das nicht mache. Gerschlauer befürwortet auch die Impfung bei den gesunden Fünf- bis Elfjährigen nicht. „Aber für die ganz Kleinen gibt es noch nicht einmal einen zugelassenen Impfstoff, deshalb da auf jeden Fall Finger weg!“, sagt er. Die Sorge von Eltern vor der in sehr seltenen Fällen nach einer Corona-Infektion bei Kindern auftretenden Entzündungsreaktion Pims oder vor Long Covid teilt der Mediziner nicht: „Long Lockdown macht mir mehr Angst als Long Covid, ich sehe in meiner Praxis so viele Kinder mit psychischen Auffälligkeiten als Folge der Schulschließungen und der massiven Einschränkungen des täglichen Lebens, die sind fertig mit der Welt.“
Eine Gruppe von Ärzten, die sich etwa über die Website www.u12schutz.de und den Twitter-Account @U12Schutz Corona-Impfungen organisiert, will nicht auf die Zulassung des Kinderimpfstoffs auch für die Kleinsten warten und impft die Unter-Fünfjährigen bereits jetzt gegen Corona – „Off label“ nennt sich das. Wolfgang von Meißner, in Baiersbronn Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeinmedizin, ist einer von ihnen. Er macht sein Engagement öffentlich, viele andere tun es aus Angst vor Anfeindungen von Impfgegnern nicht. Von Meißner sieht keinen medizinischen Grund, Kinder ab fünf Jahren zu impfen, jüngere aber nicht. „Ein Dreijähriger hat kein anderes Immunsystem als ein Fünfjähriger“, sagt er.
Eltern müssen die ganze Verantwortung tragen
Die Grenze sei eine rein rechtliche: „Damit werden Eltern im Stich gelassen, sie müssen die ganze Last der Verantwortung tragen und können sich auf niemanden stützen.“ Er hat im April 2021 damit begonnen, Kinder zu impfen – damals war auch für die Unter-Zwölfjährigen noch kein Impfstoff zugelassen und die Altersgrenze von fünf Jahren kein Thema. In seiner großen Allgemeinmedizin-Praxis blieben bei den regulären Erwachsenen-Impfungen oft letzte Reste aus den Impfstoffampullen übrig. Diese verimpfte von Meißner zunächst an die eigenen Kinder und die von Kollegen. Das sprach sich rum, die Anfragen nahmen zu. Inzwischen habe er über 1000 Kinder unter fünf Jahren geimpft, sagt er: „Und mir ist kein Impfschaden bekannt, es sind nur die erwartbaren Impfreaktionen aufgetreten.“
Wolfgang von Meißner sagt auch: „Vor der akuten Corona-Infektion muss man bei den kleinen Kindern keine Angst haben.“ Da stimmt er mit jenen überein, die diese Altersgruppe aktuell nicht impfen wollen. Ihm bereitet Long Covid aber große Sorgen. Er fragt: „Warum sollte das Virus bei Erwachsenen Schäden anrichten und bei Kindern nicht?“ Weil deren Immunsystem der oberen Atemwege ohnehin noch auf Hochtouren läuft und daher besser mit dem Virus fertig wird, so argumentieren viele Mediziner. Ja, könnte sein, meint auch von Meißner. Aber das Könnte reicht ihm nicht. Er glaubt, dass Long-Covid-Auswirkungen wie Konzentrationsstörungen oder bleierne Müdigkeit bei den sehr kleinen Kindern möglicherweise unterdiagnostiziert sind.
Arzneimittel dürfen auch außerhalb der genehmigten Anwendungsgebiete eingesetzt werden
Rechtlich fühlt sich von Meißner mit seinen Off-Label-Impfungen auf der sicheren Seite, denn Arzneimittel dürften auch außerhalb der genehmigten Anwendungsgebiete eingesetzt werden, „wenn es um die Prävention einer bedeutsamen Erkrankung geht, kein anderer Impfstoff und keine andere Präventionsmaßnahme zur Verfügung steht und die Datenlage Aussicht auf Erfolg verspricht“, so formuliert es sein Anwalt Matthias Klein, Fachanwalt für Medizin- und Strafrecht aus Karlsruhe. „Und Anspruch auf Versorgung nach Paragraf 60 Infektionsschutzgesetz durch die zuständige Landesbehörde hat nach einem möglichen Impfschaden jede und jeder Geimpfte, egal ob jung oder alt, da es sich bei der Corona-Impfung um eine staatliche Schutzimpfung handelt, greift hier auch die Staatshaftung“, sagt Klein.
Die Unternehmen Pfizer und Biontech führen aktuell eine klinische Studie zu ihrem Covid-19-Impfstoff bei Kindern im Alter von 6 Monaten bis unter 5 Jahren durch. Sie hätte bis Weihnachten abgeschlossen sein sollen. Sicherheitsbedenken gebe es keine, heißt es in einer Biontech-Pressemitteilung vom 17. Dezember. Die Dosis bereitet aber Probleme, mit zwei Impfdosen à 3 µg (Erwachsene 30 µg, Fünf- bis Zwölfjährige 10 µg) wurde keine hinreichende Immunantwort erreicht. Deshalb wurde die Studie um die Verabreichung einer dritten Dosis erweitert. Das dauert. Eine Zulassung des Impfstoffs für die Jüngsten wird es nun kaum vor Mitte des Jahres geben.