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TV-Show „Old enough“Zweijährige gehen alleine einkaufen – ist das süß oder schlimm?

Lesezeit 6 Minuten
Szene aus „Old enough“

Die Serie „Old Enough“ schickt Kinder wie die zweijährige Miro alleine auf Erledigungstour. 

Köln – Hiroki hat es fast geschafft, der Zweijährige muss noch alleine an einer großen Straße entlang laufen, dann ist er im 1000 Meter entfernten Supermarkt angekommen, um für Mama Fischfrikadellen und Blumen zu kaufen. Auch die dreijährige Yuka hat einen Auftrag, sie soll zum Fischmarkt gehen und in der vollen Markthalle Spezialitäten besorgen. Der zweijährige Ao wiederum bekommt Papas Arbeitskleidung eingepackt, um sie zur Reinigung am anderen Ende des Viertels zu bringen. Und so setzen die Kleinen ein mutiges Gesicht und ihren Rucksack auf, winken noch einmal und ziehen los.

Was für Eltern hierzulande wahrscheinlich wie ein Scherz oder sogar ein Alptraum klingt, sind Szenen aus der japanischen Serie „Old enough“ („Hajimete no Otsukai“), die seit einigen Wochen in gekürzter Form auf Netflix zu sehen ist. In der Reality-Show müssen Kinder zwischen zwei und sechs Jahren ohne Begleitung Erwachsener Aufgaben erledigen und werden mit der Kamera begleitet.

Japanische Kult-Show – da hilft auch mal der Gärtner

In Japan ist die Serie seit 30 Jahren ein Dauerbrenner im Fernsehen, zwei Mal im Jahr wird die dreistündige Show dort ausgestrahlt und hat Einschaltquoten bis zu 20 Prozent. Und den Kult-Status merkt man der Machart der Show auch an: Hier werden die japanische Kultur, die Landschaften, Spezialitäten und die Harmonie der Kinder und ihrer Familien gefeiert. Das Abenteuer der Kleinen wird mit Pop-Musik unterlegt und ironisch kommentiert, eingespielte Lacher und Jauchzer inklusive.

Zuvor werden die Kinder in einem aufwendigen Auswahlverfahren ausgesucht. Auch die Wege sind geprüft und Passanten sind eingeweiht, um für die Sicherheit der Kinder garantieren zu können. Da rennt einmal ein Handwerker zur Hilfe oder ein Gärtner passt auf, dass an der Straße nichts passiert. Alle Leute sind freundlich und hilfsbereit. Aber ihre Aufgaben umsetzen müssen die Kinder alleine.

Ist Lachen auf Kosten der Kinder erlaubt?

Als Mutter eines Kleinkinds haben mich manche Szenen wirklich amüsiert, zumal die Kinder auf der Strecke mitunter sehr lustige Dinge tun und sagen. Das ist einfach süß. Und ich war beeindruckt, was sie in ihrem Alter schon schaffen. An nicht wenigen Stellen musste ich aber schlucken und habe richtig mit den Kleinen gelitten. Ich fragte mich: Darf man ein solches Selbständigkeitsexperiment an Kindern überhaupt wagen? Und lässt sich diese Show auch ins echte Leben übertragen – würde ich meiner zweijährigen Tochter so etwas zutrauen?

„Die Show ist für die Kleinen eine Überforderung“

Ulric Ritzer-Sachs

Ulric Ritzer-Sachs ist Sozialpädagoge und Erziehungsexperte.

„Ich finde es grundsätzlich gut und wichtig, Kinder zu fordern und ihnen etwas zuzutrauen“, sagt Erziehungsexperte Ulric Ritzer-Sachs von der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke), „ich kann mir auch vorstellen, dass Zuschauer staunen, was die Kinder in dieser Serie können, doch das ist für die Kleinen eine totale Überforderung“. Manche Dinge könnten kleine Kinder einfach noch nicht umsetzen. „Ein zwei- oder dreijähriges Kind kann sich noch nicht alleine im Straßenverkehr bewegen – selbst wenn es das intellektuell versteht, lässt es sich zu leicht ablenken, da muss nur eine Katze vorbei laufen, schon hat es den Verkehr vergessen. Absolut gefährlich.“ In einer Szene komme das Kind erst im Dunkeln alleine nach Hause. „Da würde ich mir als Eltern zurecht Sorgen machen.“

Das Verhalten der Kinder in der Sendung sei auf jeden Fall ungewöhnlich. „Die normale Reaktion eines kleinen Kindes wäre, spätestens nach 100 Meter nach Mama oder Papa zu rufen.“ Kinder in diesem Alter fühlten sich in so einer Situation allein und seien einfach auf die Eltern angewiesen. „Ich kann ein zweijähriges Kind alleine in den Laden schicken, wenn es das will, aber nur wenn ich davor stehen bleibe.“ Ein so kleines Kind könne auch keine Vielzahl an Aufgaben erledigen. „Ich habe Zweifel, ob diese Szenen nicht teilweise gefakt sind.“

Kinder können früh helfen, wenn die Aufgaben zum Alter passen

Selbstverständlich könnten auch kleine Kinder bereits mithelfen, wenn es altersgerecht sei. Eltern sollten schauen, was das eigene Kind wirklich könne. „Ein zweijähriges Kind kann zum Beispiel beim Tischdecken helfen, beim Nachbarn alleine etwas abholen, wenn es ihn kennt oder schon mal auf dem Gehweg zum Spielplatz vorgehen“, sagt Ritzer-Sachs. Ein vier- oder fünfjähriges Kind könne auch beim Kochen helfen und ein scharfes Messer benutzen. Und ein sechsjähriges Kind sei in der Regel reif genug, um den Schulweg alleine bewältigen. Es käme aber immer auf das einzelne Kind an. „Eltern dürfen ihr Kind nicht überfordern.“

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Verzweifelte Kinder, die den Eltern gefallen wollen

Die Protagonisten in „Old Enough“ zeigten in manchen Szenen dagegen eindeutig, dass sie überfordert seien. „Sie sagen, dass sie nicht alleine gehen wollen, sie reißen die Augen auf, zittern und weinen, das ist ein klares Zeichen.“ Mit etwas verbalem Druck der Eltern gehen sie dann doch los. „So wie die Erwachsenen ihr Kind zum Gehen überreden, ist das wirklich emotionale Erpressung“, sagt der Erziehungsexperte. Denn natürlich wollten Kinder ihren Eltern gefallen und seien grundsätzlich kooperativ. Übrigens merkt man auch den Eltern ganz deutlich an, wie schwer ihnen das Loslassen fällt und wie unruhig sie sind, während das Kind unterwegs ist.

Nicht immer erreichen die Kinder in der Serie ihr Ziel leicht. Da ist der vierjährige Sota, der richtig verzweifelt, weil auf dem Weg ständig sein Tragekorb kaputt geht – irgendwann findet er eine Lösung und ist dann recht stolz, aber auch sehr erledigt. Da ist die zweijährige Miro, die am Ende in bitteres Schluchzen ausbricht, weil sie eine der Aufgaben nicht geschafft hat. Sie lässt sich scheinbar erst beruhigen, als sie nochmal losgehen und die Mission abschließen darf. „Es passiert auch im echten Leben, dass ein Kind sich selbst oder die Eltern enttäuscht“, sagt Ritzer-Sachs, „dann aber muss es in den Arm genommen und bestärkt werden.“ Auch Niederlagen seien in der kindlichen Entwicklung wichtig. „Kinder kommen auch mal in eine überfordernde Situation und müssen selbst ein Problem lösen, das ist eine wichtige Erfahrung.“ Wenn das aber nicht klappe, müsse jemand da sein.

„Die Kinder werden einem Millionenpublikum vorgeführt“

Und es spiele eben eine Rolle, in welchem Rahmen Kinder solche Erfahrungen machten. „Ich finde es schlimm, wie die Kinder hier in privaten Momenten einem Millionenpublikum vorgeführt werden. Sie wissen gar nicht, was ihnen da passiert.“ Die Filme seien schließlich noch Jahre später in der Welt. „Ich empfinde auch die ironischen, sarkastischen Kommentare des Sprechers als sehr abwertend und unmöglich“, sagt Ritzer-Sachs, „da heißt es ‚das Mädchen bewegt sich wie eine junge Braut‘, so etwas ist völlig unpassend.“

Und doch ist die Serie in Japan sehr beliebt. Laut japanischen Medien wollen manche Eltern, die als Kind in der Sendung selbst dabei waren, heute gerne ihre eigenen Kinder für die Show anmelden. Muss man die also auch im kulturellen Kontext sehen? Inwieweit es Teil der japanischen Erziehungskultur ist, Kinder früh zur Selbständigkeit zu erziehen, sei für ihn schwer einzuschätzen, sagt Ulric Ritzer-Sachs. „Ich habe gelesen, dass in Japan zum Beispiel Sechsjährige schon oft alleine mit der U-Bahn fahren. Ich bezweifele aber, dass dort schon Zweijährige alleine einkaufen.“ Deutsche Eltern im Umkehrschluss würden ihre Kinder teilweise zu sehr verhätscheln. „Ich kenne 14-Jährige, die keine Stunde alleine bleiben können.“ Eltern sollten Kindern also ruhig mehr Raum geben und diesen vernünftig und schrittweise weiter öffnen.

Von einer Nachahmung der Serie rate er aber dringend ab. „Wenn Eltern durch die Sendung den Anstoß bekommen, ihrem Kind etwas mehr zuzutrauen und es mal eine Schüssel alleine aus dem Schrank holen lassen, finde ich das gut“, sagt er, „sie sollten aber auf keinen Fall denken, ihr Kind müsse all das auch können. Also, bitte auf keinen Fall nachmachen!“