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Selbständig statt trotzigWarum Eltern ihren Kindern unbedingt mehr zutrauen sollten

Lesezeit 6 Minuten
Michaeleen Doucleffs Tochter Rosy (r.) spielt mit einem Maya-Mädchen.

Michaeleen Doucleffs Tochter Rosy (r.) spielt mit einem Maya-Mädchen.

Köln – Jeden Tag Wutanfälle und Machtkämpfe – wie viele Eltern war die US-Journalistin Michaeleen Doucleff mit ihrer dreijährigen Tochter Rosy mal wieder an einen Punkt angekommen, an dem sie nicht weiter wusste. Wie sollte sie nur mit ihrem Kind umgehen, machte sie alles falsch? Dann hatte sie ein Schlüsselerlebnis: Auf einer Reportagereise zur mexikanischen Halbinsel Yucatan beobachtete sie Maya-Eltern mit ihren Kindern. Sie war völlig beeindruckt, wie sanft, locker und ohne Drama diese miteinander umgingen. „Die Kinder zeigten sich respektvoll, freundlich und kooperativ, und zwar nicht nur ihren Eltern, sondern auch ihren Geschwistern gegenüber.“

Erziehungsabenteuer: Unterwegs bei indigenen Kulturen

Nach diesem Erlebnis war Doucleffs Neugier geweckt, sie wollte selbst herauszufinden, wie die Kindererziehung bei indigenen Völkern aussieht, wo die Geheimnisse stecken und ob westliche Eltern vielleicht sogar etwas von ihnen lernen können. Sie brach mit ihrer Tochter im Schlepptau zu einer Reise auf und lebte fortan einige Monate bei den Mayas, den Hadzas und den Inuits. „Rosy und ich schliefen in einer Hängematte unter dem Maya-Vollmond, halfen einem Inuit-Großvater bei der Narwaljagd im Arktischen Ozean und lernten von Hadza-Müttern in Tansania, wie man nach Wurzeln und Knollen gräbt“, beschreibt Doucleff in ihrem Buch „Kindern mehr zutrauen: Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen“.

Michaeleen Doucleff mit Tochter Rosy und der Hündin Mango

Michaeleen Doucleff mit Tochter Rosy und der Hündin Mango – hier wieder zuhause in San Francisco.

Eltern-Kind-Beziehungen ohne Kontrollwut

Doucleff war überrascht davon, wie die Gemeinschaft aus Eltern und Kindern bei diesen Völkern funktionierte. „Es besteht kein Zweifel daran, dass die Eltern unglaublich talentiert darin sind, mit ihren Kindern zu kommunizieren, sie zu motivieren und mit ihnen zu kooperieren.“ Eltern der Jäger-und-Sammler-Kulturen pflegten eine ganz andere Beziehung zu ihren Kindern als westliche Eltern. „Diese Beziehung basiert auf Kooperation statt auf Konflikt, auf Vertrauen statt auf Angst und auf persönlich abgestimmten Anforderungen statt auf standardisierten Entwicklungsmeilensteinen.“ Es seien vor alle Eltern-Kind-Beziehungen, die nichts mit Kontrolle zu tun hätten, anders als bei westlichen Eltern.

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Wie groß die Unterschiede im Erziehungsstil sind, das bemerkte Michaeleen Doucleff in ihrer Zeit bei den fremden Kulturen oft am eigenen Leibe. Schonungslos, aber auch mit Augenzwinkern erzählt sie Situationen, in denen ihre Tochter ausrastet oder sie selbst zur Furie wird, während die anderen Eltern und Kinder harmonisch und ruhig bleiben – zum Beispiel als Rosy sich unterwegs tobend auf die Straße schmeißt und dabei von einer Inuit-Familie beobachtet wird, die so etwas gar nicht kennt und in Seelenruhe weiter einen Wal schlachtet. Immer wieder stellte sich die Mutter im Rahmen ihrer Beobachtungen dabei dieselbe Frage: Warum läuft es zwischen westlichen Eltern und Kindern so anders?

Rosy aus San Francisco rennt in Tansania alleine durch die Landschaft.

Eine andere Welt: Rosy aus San Francisco rennt in Tansania alleine durch die Landschaft.

Kinder werden von einem ganzen Dorf erzogen

Ein zentraler Punkt, den sie erkannt habe, sei die Tatsache, dass Kinder bei den Naturvölkern in der Regel in einer Gemeinschaft mehrerer Generationen leben, die nicht nur ihr Elternwissen über Jahrhunderte weitergegeben haben, sondern allesamt Teil der Erziehung sind – anders als bei vielen westlichen Familien. „Die Erschaffung der Kernfamilie hat verändert, wie wir erziehen, und auch verändert, wie wir zu erziehen lernen“, schreibt Doucleff, „Tschüss, Oma. Tschüss, Tante Susanne. Und Auf Wiedersehen Erziehungswissen, Erziehungsfähigkeiten und zusätzliche Arme zum Halten, Kochen und Rückenkratzen zur Schlafensgehzeit. Hallo Isolation, Erschöpfung und Stress.“

Maya-Kinder sind aufmerksam und hilfsbereit

Zum anderen aber pflegten die Eltern in diesen Völkern ganz andere Erziehungstraditionen. Bei den Mayas habe sie zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass Kinder von sich aus im Haushalt halfen und sich in die Gemeinschaft einbrachten. „Diese Kinder sind tüchtig, eigenständig und bemerkenswert hilfsbereit“, erzählt sie. „Und die meiste Zeit über erledigen sie diese Aufgaben, ohne dass jemand sie darum gebeten hätte, ohne dass man ihnen Strafe angedroht oder sie mit einer Belohnung gelockt hätte. Keine Fleißbienchen. Keine Vergünstigungen. Kein versprochener Eisbecher.“ Die Kinder lernten von klein auf eine wichtige Fähigkeit mit dem Namen „acomedido“, nämlich hilfsbereit und aufmerksam zu sein. „Wer acomedido ist, erledigt eine Aufgabe nicht nur, weil jemand ihm gesagt hat, dass er oder sie sie erledigen solle; wer acomedido ist, weiß, welche Art von Hilfe in einem bestimmten Augenblick angemessen ist, weil er oder sie seine Umgebung aufmerksam beobachtet hat.“ Das lernten die Kinder schon in ganz jungem Alter, weil Maya-Eltern es auch zuließen, dass schon Kleine mithelfen und ihren Teil übernehmen, wo sie das können.

Was westliche Eltern von den Maya lernen können

Buchtipp

Michaeleen Doucleff, „Kindern mehr zutrauen – Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen“, Kösel Verlag, 2021

Dr. Michaeleen Doucleff ist studierte Chemikerin und arbeitet seit vielen Jahren als Wissenschaftsjournalistin und Bloggerin.

Und genau dieser Aspekt lasse sich, so Doucleff, auch auf westliche Eltern-Kind-Beziehungen übertragen. Eltern müssten ihre Kinder von Anfang an mit einbinden. Gerade Kleinkinder hätten eine unglaubliche Lust, mitzuhelfen. „Lassen Sie sie machen. Lassen Sie sie putzen, kochen oder abwaschen, wenn sie Lust dazu haben. Lassen Sie sie Ihnen den Löffel aus der Hand reißen und damit im Topf herumrühren oder den Staubsauger aus dem Schrank zerren und den Teppich saugen. Lassen Sie sie ein wenig Chaos anrichten, wenn sie noch klein sind, und etwas weniger Chaos, wenn sie größer sind, dann werden sie Ihnen später dabei helfen, Ihr Chaos aufzuräumen, und zwar ohne dass Sie sie darum bitten müssten.“

Inuit-Kinder können ihre Wut kontrollieren

Bei den Inuit wiederum habe Doucleff die Erfahrung gemacht, dass Eltern unglaublich effektive Methoden haben, Kindern emotionale Intelligenz beizubringen, sie könnten ihre Wut kontrollieren und zeigten viel Respekt anderen gegenüber. Aber vor allem auch die Erwachsenen seien immer ruhig geblieben, egal was passierte. Ein Kind anzuschreien oder zu schimpfen, das gelte bei den Inuit als selbsterniedrigend, es sei sozusagen die Erwachsenenversion eines Tobsuchtsanfalls. „Wütend zu werden löst das Problem nicht. Es beendet lediglich die Kommunikation zwischen Kind und Mutter“, habe ihr eine 83-jährige Inuit-Mutter erzählt. Deshalb sei der Schlüssel, diese Wut gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Inuit-Kinder laufen einen Berg hinunter.

Die Kinder der Inuit lernen schnell, selbständig zu sein.

Die Inuit haben eine andere Sicht auf Kinder

Wie das auch für Eltern unseres Kulturkreises umsetzbar sein kann, weniger wütend zu werden, das beschreibt Doucleff anschaulich. Es gehe um die Sichtweise auf die kindliche Wut, wie man die Handlungen und Wutanfälle des Kindes interpretiere. Die Inuit-Eltern betrachteten Kinder nicht als manipulative Provokateure, die Chaos anrichten, sondern vom entgegengesetzten Standpunkt aus: „Sie gehen davon aus, dass Kinder über schlecht entwickelte exekutive Funktionen sowie über eine schlechte Selbstbeherrschung verfügen, und sehen es als ihre Aufgabe an, den Kindern diese Fähigkeiten beizubringen.“ Kurz gesagt: Sie wissen, dass Kinder vieles noch nicht verstehen und können und regen sich deshalb nicht darüber auf.

Unterhaltsamer Erziehungs-Ausflug mit praktischen Tipps

Das Buch ist sehr unterhaltsam erzählt, mit persönlichen Erlebnissen und Anekdoten der Autorin, die man sich lebendig vorstellen kann. Die Leserinnen und Leser werden auf Augenhöhe abgeholt, es hat zu keinem Zeitpunkt etwas Belehrendes. Doucleffs Haltung den fremden Kulturen gegenüber ist von Achtung, Respekt und Neugier geprägt. Sie entdeckt und staunt und freut sich über die Gastfreundschaft und das Vertrauen, das die Eltern und Kinder ihr entgegen bringen. Ihre Beobachtungen bei den indigenen Völkern überträgt die Autorin an vielen Stellen in die westliche Lebensrealität und verknüpft am Ende der Kapitel sogar konkrete Tipps und Übungen für Eltern. Sicherlich ist nicht alles vollständig übertrag- und umsetzbar, zumal die Struktur westlicher Familien häufig ganz anders aussieht, aber allein die neue Perspektive auf Eltern-Kind-Beziehungen ist ein spannender Ausflug, von dem man das ein oder andere für den eigenen Alltag mitnehmen kann.