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Generation Babyboomer„Kinder haben Kriegseindrücke und Verluste der Eltern gespürt“

Lesezeit 7 Minuten
In den 60er Jahren sitzt eine Mutter mit ihren Töchtern in einem Boot.

Viele Babyboomer haben mit ihren Eltern ähnliche Erfahrungen gemacht. Wie stark war deren Erziehungsstil vom Krieg beeinflusst? 

Die so genannten Babyboomer wuchsen mitten im deutschen Wirtschaftswunder auf. Erzogen wurden sie aber von Eltern, die im Zweiten Weltkrieg groß geworden sind. Wie haben deren Erfahrungen das Leben ihrer Kinder, der Babyboomer, geprägt? Ein Gespräch mit Historikerin Miriam Gebhardt zu ihrem Buch „Unsere Nachkriegseltern“.

Die Eltern der Babyboomer haben ihre Kindheit und Jugend im Krieg erlebt. Wie hat das ihren Erziehungsstil beeinflusst?

Miriam Gebhardt: Die Nachkriegseltern sind in einer Zeit erzogen worden, in der Kindern frühzeitig Härte, Widerstandsfähigkeit und emotionale Robustheit beigebracht wurde. Sie sollten die Zähne zusammenbeißen, wenn sie einen Unfall hatten und nicht weinen, wenn sie von ihren Eltern getrennt wurden. Mütter mussten ihre Kinder frühzeitig hergeben, zuerst an den „Bund deutscher Mädchen“ oder die Hitlerjugend und später an die Armee. Die Aufgabe von Erziehung war, Unabhängigkeit herzustellen, deshalb herrschte eine emotionale Distanz zwischen Müttern und Kind. Es war geradezu verboten, sein weinendes Kind nachts aus dem Bett zu holen, denn es sollte verstehen, dass es einen nicht einfach „herbeizitieren“ kann. Durch strikte Disziplin und so wenig Mitgefühl wie möglich sollte verhindert werden, dass das Kind zum Tyrann wird. Diese eigenen Erziehungserfahrungen steckten der Generation, die in der Nachkriegszeit Eltern wurde, in den Knochen. Und willentlich oder nicht haben sie das an ihre Kinder weitergegeben.

Miriam Gebhardt

Miriam Gebhardt ist Journalistin und Historikerin und lehrt als außerplanmäßige Professorin Geschichte an der Universität Konstanz. Gebhardt hat über die frühkindliche Erziehung im 20. Jahrhundert habilitiert. Sie lebt bei München.

Wollten die Nachkriegseltern es nicht gerade anders machen bei ihren Kindern?

Als sie Anfang der 60er Jahre Eltern wurden, standen ihnen noch keine wirklich neuen Ideen der Kindererziehung zur Verfügung, deshalb gaben sie die eigenen Erfahrungen und Normen fast zwangsläufig weiter. Erst in den frühen 70er Jahren entfalteten neuen Erziehungsideen eine Wirkung in der Gesellschaft.

Wie zeigten sich denn diese alten Erziehungsideale in der Kindheit der Babyboomer?

Es war eine eher körperferne Erziehung. Viele Babyboomer erzählen, dass sie mit ihren Eltern keinen Körperkontakt hatten. Seinem Kind in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten zu zeigen, war nicht gern gesehen. Das wurde auch in einschlägigen Erziehungsratgebern verbreitet. In einer Broschüre von „Alete“ in den frühen 60er Jahren stand zum Beispiel „Kinder nicht küssen!“. Babyboomer wurden zudem als Kinder oft noch richtig rhythmisiert, sie mussten immer zur selben Zeit schlafen, essen oder sich entleeren. Und sie machten die Erfahrung, dass die Liebe ihrer Eltern an bestimmte Bedingungen geknüpft war: Sie sollten selbständig, tüchtig und leistungsbereit sein.


Zur Generation der Babyboomer gehören allgemein jene Menschen, die zwischen 1946 und 1964 geboren wurden. Weil diese Jahrgänge besonders geburtenstark waren, sprach man von einem „Babyboom“. Der fand nach dem Zweiten Weltkrieg leicht zeitversetzt in vielen westlichen Ländern statt. In Deutschland begann der Babyboom wegen der Kriegsauswirkungen Mitte der 1950er Jahre und dauerte bis Mitte/Ende der 1960er Jahre.


Wie war denn das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern?

Viele Babyboomer hatten das Gefühl, auf die Eltern Rücksicht nehmen zu müssen. Die Kinder erspürten frühzeitig, welche Verwundungen die eigenen Eltern durch schlimme Kriegseindrücke, Entbehrung und Verluste erlebt hatten. Das führte dazu, dass sich die Kinder um das Wohl der Eltern kümmern mussten. Im Alltag versuchten sie zum Beispiel, den gereizten oder gestressten Eltern keine zusätzlichen Probleme zu machen. Sie gingen klaglos und mit zusammengebissenen Zähnen in irgendwelche Ferienlager und wurden übrigens oft von den Eltern per Handschlag verabschiedet.

Mussten die Kinder also emotional ausbaden, was den Eltern als Kriegskinder angetan wurde?

Ja. Sie versuchten im Grunde zu reparieren, was an den Kindheiten der Eltern kaputt gemacht worden war. Die Eltern machten das natürlich nicht absichtlich, viele waren eben schwer traumatisiert.

Wie hat das die Babyboomer für ihr weiteres Leben geprägt?

Wenn Kinder mit ihren Bedürfnissen allein gelassen werden, kann das einsam machen und in extremen Fällen auch zu dem Gefühl führen, nicht geliebt zu werden. Einige Babyboomer haben sich deshalb irgendwann im Leben einmal die Frage gestellt: Wo bleibe ich eigentlich, wer kümmert sich um mich? Viele hatten auch gelernt, sich schnell herauszulösen aus Umgebungen und Beziehungen, was sich später im Leben in einer Art „innerer Unbehaustheit“ gezeigt hat. Typisch für diese Generation war, sich sehr lange im Leben nicht räumlich niederzulassen. Bei vielen stand lange noch eine Umzugskiste in der Ecke. Aber auch innerlich blieb das Gefühl: Wann werde ich erwachsen?

Aber die Babyboomer lebten auch in einer Zeit, in der es viel selbstverständlicher wurde, Selbstfürsorge- und Therapieangebote wahrzunehmen. Die kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen waren für sie außerdem günstiger. Sie hatten die Chance, sich von ihren Nachkriegseltern und dieser deutschen Geschichte ein Stück weit zu erholen. Und die von ihnen notwendig erlernte Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zurückzustellen und sich durchzusetzen hat ihnen in der Konkurrenz um Jobs und Wohnungen auch genutzt.

Mit welchem Rollenverständnis sind die Babyboomer groß geworden?

Sie sind mit sehr widersprüchlichen Rollenbildern aufgewachsen. Die 60er Jahre waren noch geprägt vom bürgerlichen Familienideal, bei dem die Frau sich ganz dem Haushalt und der Kindererziehung verschreiben sollte. Durch die Frauenbewegung der frühen 70er Jahre lernten sie aber auch die emanzipierte Lebensführung kennen. Für viele Babyboomer wurde die Rolle der Mutter, die sich dem Vater untergeordnet und ihre eigene Selbstverwirklichung zurückgestellt hat, deshalb ein Reibungspunkt. Es fiel den Babyboomerinnen später nicht leicht, für sich selbst ein eigenes Modell aus Familie und Beruf zu finden. Das starke Mutterideal ist ja selbst in der heutigen Gesellschaft noch fest verankert.


Buchtipp: Miriam Gebhardt: „Unsere Nachkriegseltern – Wie die Erfahrungen unserer Väter und Mütter uns bis heute prägen“, DVA Verlag, 288 Seiten, 24 Euro


Die Nachkriegsväter, die selbst mit einem soldatischen Männlichkeitsbild vor Augen aufgewachsen sind, sollten auf der anderen Seite demokratische Familienväter werden, die ihre Autorität abseits von purer Gehorsamsmentalität durchsetzen können sollten. Doch der Wandel zur neuen Väterlichkeit war schwer – schließlich war es noch in den 50ern und 60ern ein Unding gewesen, dass ein Vater einen Kinderwagen schiebt. Tradierte Verhaltensmuster zu ändern ist nicht leicht, auch heute noch nehmen nur wenige Väter länger Elternzeit. Und es herrscht weiter eine große emotionale Verunsicherung, wenn Geschlechterrollen brüchig werden.

Welche Art von Eltern wurden denn die Babyboomer?

Was die Erziehung betrifft wollten einige Babyboomer auf gar keinen Fall so sein wie ihre Eltern. Das führte zu einer besonders nahen, intensiven Beziehung zu den Kindern, die aber dann auch wieder schwer lösbar war. Zum Teil war diese Generation aber auch noch irritiert von den neuen Normen im Umgang mit Kindern. Und manche vertraten wieder die Erziehungsmethoden von früher, nach dem Motto: „Uns hat es auch nicht geschadet.“ Das ist nicht untypisch. Was man selbst erlebt hat, hält man oft für den Maßstab. Es ist nicht leicht, Erziehungsregeln zu reflektieren, denn wenn man ablehnt, wie man selbst erzogen wurde, dann stellt man sich selbst ja komplett in Frage. Deshalb wandeln sich Erziehungsstile in der Gesellschaft nur langsam.

Hilft ein Blick in die Kindheit der eigenen Eltern, um ihr Verhalten besser zu verstehen?

Ich finde schon. Für mich persönlich ist es eine große Erleichterung, dass diese Kindheitserlebnisse eine generationenübergreifende Erfahrung sind und das Verhalten der Eltern nichts mit böser Absicht zu tun hatte, sondern damit, dass sie es selbst nicht anders erlebt und gelernt hatten. Es kann dabei helfen, sich selbst aus dem Fokus zu nehmen und mehr Verständnis für die Eltern aufzubringen. Die Nachsicht mit den Fehlern der Eltern kann auch nachsichtig mit den eigenen Fehlern machen.

Lohnt es noch, bei den heute sehr alten Eltern nachzufragen?

Die Eltern der Babyboomer gehen gerade oder sind schon gegangen. Und das ist der spät möglichste Zeitpunkt, sich mit ihrer Geschichte noch einmal auseinanderzusetzen. Jetzt kann man noch Fragen stellen oder sich im Nachlass mit den Fotoalben und Briefwechseln zu beschäftigen. Wir verstehen uns als Individuum und auch als Kollektiv besser, wenn wir die Familiengeschichte kennen.