Warum wir uns an Dinge erinnern, die wir nie erlebt haben und wie wir permanent durch Erinnerungen lernen, erklärt Wissenschaftler Albert Newen.
KindheitserinnerungenIst alles, woran wir uns erinnern, wirklich damals so passiert?
Der Schwimmbadbesuch mit Opa, der Armbruch im Kindergarten, das Wanderabenteuer im Urlaub – manche Erinnerungen aus unserer Kindheit scheinen heute noch greifbar nah zu sein. Doch sind diese Kindheitserinnerungen wirklich zuverlässig? Und warum bleiben manche Erinnerungen lange und andere gar nicht? Ein Gespräch mit dem Philosophie-Professor Albert Newen.
Wie weit können wir uns an Momente aus der Kindheit zurückerinnern?
Albert Newen: Menschen können sich in der Regel an Geschehnisse erinnern, die ab ihrem dritten Lebensjahr stattgefunden haben. Weiter zurück geht die Erinnerung nicht, man spricht hier von der sogenannten „infantilen Amnesie“. Warum es die gibt, wurde bis heute nicht vollständig erforscht. Ist jemand trotzdem davon überzeugt, sich an Erlebnisse aus der ganz frühen Kindheit zu erinnern, liegt das in der Regel an Erzählungen, die diese Erinnerungen nahegelegt haben.
Glaubt man manchmal, sich an Dinge zu erinnern, die man gar nicht selbst erlebt hat?
Gerade im Alter von etwa sechs Jahren kann es passieren, dass eine Erzählung nicht als Bericht der Eltern abgespeichert wird, sondern als etwas, das man selbst erlebt hat – obwohl es gar nicht so gewesen ist. Bei der Gedächtnisbildung findet eine falsche Zuordnung statt. Ruft man das Ereignis wieder auf, fühlt es sich aber wie eine eigene Erinnerung an.
Das habe ich selbst schon erlebt: Lange dachte ich, ich sei als Kind bei einem Unglück im Garten dabei gewesen, tatsächlich war ich in der Zeit auf dem Spielplatz – ich hatte einfach viele Berichte über diesen Tag gehört …
Das ist ein typisches Beispiel für eine Erinnerung, die sich durch die lebhaften Erzählungen anderer gebildet hat. Und je länger etwas zurückliegt oder je jünger man war, desto unklarer ist, wo die Quelle einer Erinnerung liegt. Das ist übrigens ein verständliches Phänomen, denn das Gedächtnis will sich nicht mit unnötigen Dingen belasten. In der Regel ist es für uns Menschen und unser Handeln auch wichtiger, zu wissen, ob etwas passiert ist, als woher dieses Wissen kommt.
Gehen wir davon aus, wir haben eine Situation wirklich erlebt – ist die immer genau so passiert, wie sie uns heute in Erinnerung ist?
Nein, Erinnerungen sind meistens konstruiert. Macht ein Mensch eine Erfahrung oder hat ein Erlebnis, wird davon im Gehirn eine Gedächtnisspur abgelegt. In dieser werden aber explizit nur kleine Aspekte der Situation abgespeichert – und zwar nur das, was für den Einzelnen besonders war. Andere Dinge werden gar nicht in die Erinnerung mit aufgenommen. Hatte ich damals zum Beispiel einen schlimmen Streit mit meinem Bruder, werde ich mich vielleicht an Sätze erinnern, die gesagt wurden, aber nicht an die Einrichtungsdetails der Küche, in der der Streit stattgefunden hat.
Erinnern wir uns an das gleiche Ereignis also ganz anders als etwa unsere Geschwister?
Erinnerung funktioniert nicht so, dass alle das gleiche Foto eines Erlebnisses im Kopf aufrufen. Das läuft sehr individuell ab. Ereignisse werden unterschiedlich erinnert, weil jeder Mensch Situationen anders wahrnimmt und andere Empfindungen hat. Jeder prägt sich das ein, was in diesem Moment für ihn oder sie wichtig war – die eine merkt sich besonders den Ort, der andere die Musik. Auch wie man die Erinnerung abruft, ist individuell. Da spielt unser Selbstbild eine zentrale Rolle: Wie ich mich sehe, bestimmt auch, wie ich meine Erinnerungen rekonstruiere und bewerte.
Was bedeutet das genau?
Menschen haben die Tendenz, Ereignisse rückblickend in etwas besserem Licht darzustellen, um das eigene positive Selbstbild zu schützen. Sagen wir, vor vielen Jahren ist mir eine kostbare Vase eines Freundes heruntergefallen, wofür ich mich geschämt habe – rufe ich diese Erinnerung Jahre später wieder auf, spiele ich die unangenehmen Aspekte des Ereignisses eher ein wenig herunter. Manchmal wird die Erinnerung an frühere Verhaltensweisen auch individuell neu interpretiert. Nach einer Scheidung ändert sich zum Beispiel die Erinnerung an einen Charakterzug des Partners oder einen Urlaub: Was vorher neutral oder positiv besetzt war, wird nach der Trennung vielleicht als unschön oder drastisch erinnert. Auch Jugendliche rekonstruieren frühere Ereignisse plötzlich anders, weil sie gerade im Prozess der Selbstfindung sind und anders auf die Welt blicken.
Verändern sich unsere Erinnerungen also mit der Zeit?
Natürlich. Denn die Erinnerung dient dazu, dass wir unser Handeln in der Gegenwart und der Zukunft besser gestalten können, zum Beispiel, indem wir gemachte Fehler nicht wiederholen. Wir lernen die ganze Zeit von unseren Erinnerungen.
Woran erinnern wir uns besonders, welche Dinge prägen sich lange ein?
Unsere Gefühlswelt bestimmt unsere Erinnerung wesentlich mit. Positive oder negative Erlebnisse, die mit starken Gefühlen verbunden sind, bleiben lange. Erinnerungen an eine besondere Feier können unter Umständen sehr wirkmächtig sein und die Verbundenheit mit den Menschen, die dort anwesend waren, lange lebendig halten. Aber auch Dinge, die mit extrem negativen Gefühlen wie Scham oder Schuld verbunden waren, können Menschen lange belasten.
Manche werden ja bis ins hohe Alter von solchen Erinnerungen verfolgt …
Das ist richtig. Und es gibt natürlich auch objektiv dramatische Erinnerungen, Kriegserfahrungen zum Beispiel, die sich bei Kindern langfristig auswirken können. In der neueren Forschung wird das Gedächtnis aber nicht als Eimer betrachtet, in dem eine Erinnerung für immer liegt und eine mächtige Wirkung behält. Stattdessen wird versucht, eine Erinnerung, die man nicht mehr im Vordergrund haben möchte, mit einer neuen Erinnerung zu überspeichern. Man spricht hier vom sogenannten Extinktionslernen. Im einfachen Fall findet das ja regelmäßig statt: Prägt man sich eine neue Adresse ein, wird die Erinnerung an die alte Adresse immer mehr verblassen. Das ist bei Erinnerungen, an die starke Emotionen geknüpft sind, natürlich nicht ganz so leicht.
Kann es nicht auch gefährlich sein, Erinnerungen zu überschreiben?
Ja, denn falsche Erinnerungen können auch gezielt eingepflanzt werden. Im Zusammenhang mit Sorgerechtsprozessen kommt es manchmal vor, dass zum Beispiel ein Kind manipuliert wird. Nehmen wir mal an, ein Kind erinnert sich an eine echte Begegnung oder Situation, die mit einem stark negativen Gefühl verbunden war – nun kann ein Erwachsener, der über dieses Erlebnis Bescheid weiß, etwas dazu dichten, zum Beispiel kann er dem Kind sagen, es sei bei dieser Situation missbraucht worden. Da die ursprüngliche Erinnerung beim Kind tief verankert ist, kann es das reale Erlebnis und die gefälschten Informationen nicht mehr unbedingt auseinander halten. Die falsche Erinnerung wird so abgespeichert. Und die kann gezielt eingesetzt werden, um jemandem zu schaden.
An welche Zeit im Leben erinnern sich Menschen besonders häufig?
Es sind nicht so sehr die Kindheits- und Jugenderinnerungen. Wenn wir älter werden, rufen wir vor allem Erinnerungen an die Zeit des jungen Erwachsenenseins, also des Alters zwischen 15 und 30 Jahren wieder auf. Denn da hat man seine Identität, seinen Beruf, seine Beziehungen und seinen Platz in der Gesellschaft gefunden und die stärksten psychologischen Veränderungen erlebt.
Kinder heute werden ja dauernd gefilmt. Wie verändert das später ihre Erinnerung, wenn sie all dieses Material dann abrufen können?
Spannende Frage. Das ist schwer zu sagen. Ich schätze, das Material wird in der normalen Aufarbeitung der Erinnerung kaum zum Einsatz kommen, selbst wenn es verfügbar in der Ecke liegt. Vielleicht werden mal Episoden bei einer Familienfeier vorgeführt. Es wird aber für das Selbstbild kaum eine Rolle spielen. Welches Gewicht eine Erinnerung hat, wird eher durch die Emotionen bestimmt, die wir damit verbinden.