Vor der Wahl in der Türkei ist Erdogan-Gegner Imamoglu von Anhängern des Präsidenten zum Abbruch seines Auftritts gezwungen worden. Auch der Ton unter den Kontrahenten wird zunehmend rauer.
Wahlen in der TürkeiBei Kundgebung der Opposition flogen Steine
Im türkischen Wahlkampf ist erstes Blut geflossen: Mit Pflastersteinen haben Randalierer eine Kundgebung der Opposition im osttürkischen Erzurum angegriffen. Polizisten in Kampfmontur bummelten untätig zwischen den Steinwerfern herum, während verletzte Kundgebungsteilnehmer – darunter Kinder – auf den Notarzt warteten und der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu im Steinhagel von der Bühne flüchten musste. Die Gewalt dürfte bis zum Wahltag am Sonntag weiter eskalieren.
Imamoglu, der bei einem Machtwechsel in Ankara türkischer Vizepräsident werden soll, ist ein begabter Redner, einer der populärsten Oppositionspolitiker des Landes und ein Publikumsmagnet im Wahlkampf. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte eine Präsidentschaftskandidatur des Bürgermeisters mit einem Gerichtsurteil verhindern lassen. Nun macht Imamoglu Wahlkampf für den Oppositions-Präsidentschaftskandidaten Kemal Kilicdaroglu.
Verwaltung wollte Imamoglus Auftritt verhindern
In Erzurum, das von Erdogans AKP regiert wird, hatte die Stadtverwaltung am Sonntag zunächst versucht, Imamoglus Auftritt zu verhindern. Sie ließ den Kundgebungsplatz mit städtischen Bussen sperren, doch die Veranstaltung begann trotzdem. Als Imamoglu zu sprechen begann, flogen die ersten Steine. Rund ein Dutzend Menschen wurden verletzt, Scheiben an Imamoglus Wahlkampfbus wurden zertrümmert. Imamoglu brach die Veranstaltung ab.
Im Steinhagel wandte sich Imamoglu per Lautsprecher an die Polizisten auf dem Platz, die jedoch erst später eingriffen. Festgenommen wurde offenbar niemand. Nachdem Imamoglu abgereist war, hissten Demonstranten auf dem Versammlungsplatz in Erzurum die Fahnen der AKP. Ein regierungskritischer Polizeiverband warf den Behörden in Erzurum vor, sie hätten gewusst, dass sich die Steinewerfer vor Imamoglus Auftritt versammelten, aber nichts gegen sie unternommen.
Videos in den sozialen Medien machten den Gewaltausbruch im ganzen Land bekannt. Imamoglu wurde am Sonntagabend nach seiner Rückkehr in Istanbul von tausenden Anhängern empfangen. Die Behörden waren deshalb gezwungen, Stellung zu nehmen. Der AKP-Bürgermeister von Erzurum, Mehmet Sekmen, warf der Opposition vor, die Gewalt inszeniert zu haben: Die Steinewerfer seien Anhänger von Imamoglus Partei CHP gewesen. Innenminister Süleyman Soylu sagte, Imamoglu sei ein „Provokateur“. Der Platz in Erzurum sei nicht als Veranstaltungsort genehmigt gewesen. Der Istanbuler Bürgermeister habe ein „Theater“ veranstaltet.
Präsidentschaftskandidat Kilicdaroglu sagte, die Regierung wolle die Opposition einschüchtern. Er rief seine Anhänger zur Ruhe auf. Das Regierungslager sei wegen Imamoglus Erfolgen im Wahlkampf nervös, und diese Nervosität sei in Erzurum in Gewalt umgeschlagen, schrieb der Journalist Kadri Gürsel auf Twitter. Dies könne sich am Wahltag für die Regierung rächen. Das befürchten offenbar auch einige von Erdogans Beratern. Anders als Innenminister Soylu erklärte Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin, die Steinwürfe seien inakzeptabel.
Manche Beobachter erwarten dennoch, dass die Gewalt bis zum Sonntag eskalieren wird. Erdogans nationalistischer Bündnispartner Devlet Bahceli hatte vor einigen Tagen gesagt, Kilicdaroglu und andere Oppositionspolitiker würden entweder langjährige Haftstrafen wegen Landesverrat erhalten – oder „eine Kugel“.
Erdogan bezeichnet Herausforderer als „Saufbold“
Auch Erdogans verbale Angriffe auf die Opposition werden schärfer. Bei einer Großkundgebung der AKP am Sonntag in Istanbul nannte er Herausforderer Kilicdaroglu einen „Saufbold“, dem man nicht die Regierung überlassen dürfe. Zudem wiederholte Erdogan die Behauptung, bei den Gezi-Protesten 2013 hätten Demonstranten in einer Istanbuler Moschee Bier getrunken. Der damalige Imam der Moschee hatte dies mehrmals dementiert. Erdogan warf Kilicdaroglu auch vor, für die Rechte von Homosexuellen, Bisexuellen und Transsexuellen einzutreten. Für die AKP dagegen sei die Institution der Familie „heilig“.
In den Umfragen liegt Kilicdaroglu vor Erdogan und hat nach Einschätzung einiger Demoskopen die Chance, das Rennen um die Präsidentschaft am Sonntag in der ersten Runde für sich zu entscheiden. Erreicht kein Kandidat mehr als 50 Prozent, gibt es am 28. Mai eine Stichwahl. Auch bei der Parlamentswahl eine Niederlage für Erdogans Regierung an.
Imamoglu plante gestern einen Auftritt im zentralanatolischen Konya. Gegner des Politikers riefen im Internet dazu auf, ihn auch dort mit Steinen zu empfangen.
Schlechte Wirtschaftslage ist Erdogans offene Flanke
In der Türkei geht die 20-jährige Ära Erdogan möglicherweise ihrem Ende entgegen. Die schlechte Wirtschaftslage ist Erdogans offene Flanke in diesem Wahlkampf. Die Inflation erreichte im vergangenen Jahr nach offiziellen Daten mehr als 80 Prozent; nach Berechnungen unabhängiger Experten war sie sogar doppelt so hoch. Die Lira hat seit der letzten Wahl 2018 gegenüber dem Euro rund 75 Prozent an Wert verloren. Erdogan hat zwar den staatlichen Mindestlohn mehrmals angehoben, um den Kaufkraftverlust auszugleichen, doch die Wähler sind dennoch unzufrieden. Umfragen zeigen, dass die Türken die Wirtschaftslage als größtes Problem empfinden. So ist die Wirtschaftspolitik – einst die wichtigste Trumpfkarte für Erdogan – zu einem Mühlstein für den Präsidenten geworden. „Jetzt reicht’s“, sagt ein Istanbuler Handwerker, der bisher stets die AKP und Erdogan gewählt hat. Am kommenden Sonntag werde er für Kilicdaroglu stimmen. „Seit fünf Jahren geht es mit der Wirtschaft bergab, und die Regierung hat offenbar keine Ahnung mehr von Wirtschaft und macht alles falsch“, sagt der Mann. „Obendrein verarschen sie uns noch, indem sie uns erzählen, alles sei in Ordnung.“
Weil es in der Wirtschaft nicht läuft, reagieren die Wähler zudem empfindlicher als früher auf Korruptionsvorwürfe gegen Erdogans Regierungspartei AKP. In Zeiten hoher Wachstumsraten waren Wähler eher bereit, die Korruption zu tolerieren, weil es insgesamt aufwärts ging. Damals war häufig der Spruch zu hören, AKP-Politiker steckten zwar Geld in die eigenen Taschen – „aber sie tun was“. Davon ist heute keine Rede mehr. (sugü)