Eine Niederlage des türkischen Präsidenten bei der Wahl im Mai wird realistischer – wir geben Szenarien für die Zeit danach.
Wahlkampf in der TürkeiWas passiert, wenn Erdogan verliert?
Meral Aksener ist sicher, was am 14. Mai geschehen wird – und am Tag danach. Bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl werde die Türkei ihre derzeitige Regierung in die Wüste schicken, sagte die Oppositionspolitikerin jetzt bei einer Wahlkampfveranstaltung. Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Minister würden nicht gerne gehen, fügte sie hinzu. „Aber wir werden sie fair behandeln.“
Erdogan hat in den vergangenen 20 Jahren fast alle Wahlen in der Türkei gewonnen, doch nun, vor der Mai-Wahl, stehen die Dinge schlecht für den Präsidenten. Eine geeinte Opposition, hohe Inflation, Korruptionsvorwürfe und Kritik am Krisenmanagement der Regierung nach der Erdbebenkatastrophe vom Februar drücken seine Umfragewerte nach unten.
In den meisten Befragungen liegt Erdogan hinter seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, der sich nicht nur auf ein Bündnis aus sechs Oppositionsparteien verlassen kann, sondern auch von der pro-kurdischen Grünen-Links-Partei unterstützt wird. Am Mittwoch musste Erdogan nach einem Schwächeanfall seine Wahlkampfauftritte für einen Tag unterbrechen.
Noch ist das Rennen nicht gelaufen. Umfragen zeigen, dass bis zu 15 Prozent der Wähler noch unentschieden sind. Doch ausländische Diplomaten in Ankara bereiten sich inzwischen auf eine Niederlage Erdogans vor, wie der Journalist Murat Yetkin in seinem Blog „Yetkinreport“ berichtet.
Würde Erdogan freiwillig überhaupt gehen?
Die Aussicht auf einen Sieg der Opposition über den 69-jährigen Präsidenten, der in seiner langen Zeit an der Macht die Bürokratie, die Justiz und die meisten Medien unter seine Kontrolle gebracht hat, wirft die Frage auf, ob Erdogan nach einer Niederlage freiwillig aus dem Amt scheiden würde. Eine friedliche Machtübergabe nach einer Wahl ist in der Türkei, einem Land, das mehrere Staatsstreiche der Militärs erlebt hat, keine Selbstverständlichkeit. Erdogan hat sich in den vergangenen Jahren das Präsidialsystem mit seinen großen Machtbefugnissen auf den Leib geschneidert: Er wird das höchste Staatsamt nur ungern an die Opposition übergeben. Die regierungstreue Justiz ließ in den vergangenen Tagen mehr als hundert pro-kurdische Anwälte, Aktivisten und Journalisten festnehmen – kurdische Politiker werfen der Regierung vor, die Opposition vor den Wahlen schwächen zu wollen.
Manche Beobachter sagen, Erdogan habe zu viel zu verlieren, um den Präsidentenpalast bereitwillig zu verlassen. Der Präsident müsse die Wahl gewinnen, um Anklagen wegen Korruption und Verfassungsbrüchen in seiner Amtszeit zu entgehen, schrieb der im griechischen Exil lebende Politologe Cengiz Aktar in einem Beitrag für die Erdogan-kritische Internetzeitung Free Turkish Press. Erdogans Partei AKP weist dies zurück. Die Regierung werde das Wahlergebnis akzeptieren, beteuerte der AKP-Vizechef Numan Kurtulmus dem Sender Habertürk.
Aktar rechnet damit, dass Erdogan versuchen wird, die Wahl zu manipulieren, etwa mit Hilfe regierungstreuer Mitglieder der Wahlkommissionen in Ankara und den 81 Provinzen der Türkei. Allerdings ist die Regierung schon einmal damit gescheitert, die Wahlkommissionen zu benutzen, um einen Wahlerfolg der Opposition zu verhindern. Bei den Kommunalwahlen 2019 setzte Erdogans Partei AKP bei der Wahlkommission eine Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul durch und erlebte ein Fiasko, als die Opposition einen Erdrutschsieg einfuhr. Wahlergebnisse im großen Stil zu verfälschen, dürfte ebenfalls schwierig werden: Die Opposition will am 14. Mai hunderttausende Beobachter in die Wahllokale schicken, um die Stimmauszählung zu überwachen.
Straffreiheit Erdogans als Deal
Er glaube nicht an einen massiven Betrug im Mai, sagt der Istanbuler Politikwissenschaftler Berk Esen. Denkbar sei allerdings, dass sich Erdogan bei einem knappen Wahlergebnis einfach zum Sieger erkläre und sich von befreundeten Regierungen in Russland und China beglückwünschen lasse, um vollendete Tatsachen zu schaffen, sagte Esen dem Online-Newsletter Turkey Recap.
Aksener deutete mit ihrem Versprechen, Erdogan „fair“ zu behandeln, noch eine andere Möglichkeit an. Demnach könnte der Präsident nach einer Niederlage mit den Siegern einen Deal aushandeln: eine geregelte Machtübergabe gegen Straffreiheit für Erdogan und seine Entourage. Politologe Esen weist außerdem daraufhin, dass es nicht leicht wäre, Erdogan vor Gericht zu bringen. Für eine Anklage vor dem Staatsrat, der für Prozesse gegen Spitzenpolitiker zuständig ist, sind mindestens 400 der 600 Stimmen im Parlament von Ankara notwendig. Es ist unwahrscheinlich, dass die Opposition im Mai so viele Sitze gewinnen wird.
Solche Szenarien werden vor allem im Ausland diskutiert – mit gutem Grund, wie der Türkei-Experte Selim Koru von der US-Denkfabrik FPRI meint. In der Türkei wolle die Opposition das nicht thematisieren, weil sie befürchte, ihre Wähler damit zu demotivieren.
Ohnehin wäre eine Niederlage im Mai nicht automatisch das Ende für Erdogans Karriere. Eine neue Regierung hätte mit Problemen wie der schlechten Wirtschaftslage zu kämpfen und wäre wahrscheinlich zu unpopulären Entscheidungen gezwungen. „Wir werden den Schlamassel des Jahrhunderts erben“, sagt der Wirtschaftspolitiker Bilge Yilmaz von Akseners IYI-Partei dem japanischen Magazin „Nikkei Asia“.
Zudem könnten schon bald nach der Wahl die inhaltlichen Differenzen zwischen den Parteien der Oppositionsallianz aufbrechen. In der Türkei habe noch nie eine Koalitionsregierung eine ganze Legislaturperiode durchgehalten, schrieb Soner Cagaptay von der US-Denkfabrik Washington Institute in einer Analyse. Deshalb könnte es nach einer Niederlage Erdogans schon bald wieder Wahlen geben.
Auch der Politologe Esen hält es für möglich, dass Erdogan nach einer Niederlage im Mai ein Comeback anstrebt. „Ich gebe die Macht zurück, aber die Opposition ist unfähig und kann das Land nicht regieren“, könnte er nach Esens Worten sagen: „In zwei Jahren bin ich wieder da.“