Unterwegs im Suwalki-KorridorHier ist der dritte Weltkrieg besonders greifbar
- Wo der Dritte Weltkrieg so greifbar ist wie sonst nirgends: Unterwegs im Suwalki-Korridor zwischen Polen und Litauen.
- Der nahen russischen Enklave Kaliningrad kommt mit Blick auf Raketen-Angriffe erhebliche strategische Bedeutung zu.
Es ist nur ein schmaler Streifen, der die beiden Nato-Staaten Polen und Litauen verbindet. Rund 65 Kilometer breit, links das russische Kaliningrad, rechts Weißrussland. Und mittendrin: Suwalki, eine kleine polnische Stadt, die diesem Korridor, in Nato-Sprache Suwalki Gap („Lücke“) genannt, ihren Namen gab. Spätestens seit dem Fulda Gap weiß man: Wenn die Amerikaner etwas „Gap“ nennen, ist Vorsicht angebracht. Denn dann kann es im Ernstfall schnell gefährlich werden.
Ein Szenario, das an Brisanz gewinnt
Würde Russland hier – im Suwalki Gap –, angreifen, dann wären die baltischen Staaten vom Rest der Nato abgeschnitten. Auch der Seeweg ist keine wirkliche Alternative, denn von Kaliningrad aus kann Russland ihn empfindlich stören. Es ist ein Szenario, das in der Nato schon lange problematisiert wird und durch den Angriff auf die Ukraine zunehmend an Brisanz gewinnt.
Suwalki selbst ist eine ganz normale, etwas langweilige kleine Stadt: Es gibt ein ausgedehntes Areal mit ehemals zaristischen Kasernen, in denen – stilvoll saniert – ein Hotel liegt und, unsaniert, eine Reihe von Wohnungen. Es gibt eine Innenstadt mit einem riesigen Marktplatz, der von niedrigen, teils klassizistischen Häusern umgeben ist. Und dahinter schimmern die sozialistischen Plattenbauten in der Abendsonne.
Nach Suwalki kommt man, wenn man die Natur genießen will: Hier liegt der Wigry-Nationalpark, es gibt Seen, Wälder, Wanderwege. Und dann gibt es eben in etwa 60 Kilometer Entfernung die Oblast Kaliningrad. Das ist Russland, seit 1946 eine Enklave. Bis an die Zähne bewaffnet, im Hafen Baltijsk, den manche Ältere noch als Pillau kennen, liegt die Baltische Flotte. U-Boote liegen hier, es gibt Fregatten, Zerstörer, Kampfbomber und Landungsboote und seit 2018 die atomar bestückbaren Iskander-Mittelstreckenraketen. Auch die jetzt in der Ukraine zum Einsatz gekommene Hyperschallrakete „Kinschal“ ist dort stationiert.
Eine Leere, eine Stille
Eine Rakete wäre in wenigen Minuten in Berlin, mit dem Auto dauert es bedeutend länger. Hinter Goldap wird die Straße immer breiter und der Verkehr immer weniger. Es ist ein merkwürdiger Kontrast: Auf der schlecht ausgebauten polnischen Landstraße mit vielen Schlaglöchern herrscht reger Betrieb. Hier, auf der neuen Umgehungsstraße, an deren Ende Russland liegt: nichts. Kein Auto mehr, keine Menschen sind zu sehen. Links noch ein Supermarkt, rechts die letzte Abfahrt in die Stadt. Dann geht es durch den Wald, der sich schließlich zu einem großen Parkplatz und der Grenzanlage öffnet.
Der Parkplatz liegt verlassen da, es gibt eine stillgelegte Verkaufsbude, eine leere Wechselstube, eine rote Ampel. Irgendwo da müssen Menschen sein: Grenzer, Zöllner, doch zu sehen sind sie nicht. Die russische Flagge weht im Wind neben der Europa-Flagge, es herrscht totale Stille – eine bedrückende Atmosphäre. Wer hier allein hinkommt und ein paar Tom-Clancy-Romane zu viel gelesen hat, könnte es mit der Angst zu tun kriegen: willkommen, Paranoia!
Die Grenze zur Oblast Kaliningrad ist in Teilen eine grüne und außerdem im Umkreis von einigen Kilometern Sperrgebiet. Jenseits der Grenzanlage stehen in unregelmäßigem Abstand Grenzpfähle als Markierungen. Wer hier versehentlich ein paar Meter russischen Boden betritt, muss mit russischen Grenzern und einer Haftstrafe rechnen. Auch vor legalen Einreisen mit Visum in die Russische Föderation warnt das Auswärtige Amt.
Was der Mensch nicht schafft – ohne Visum beziehungsweise Propusk nach Kaliningrad zu kommen –, übernimmt das Mobiltelefon: „Willkommen in Russland! Mit Ihrem Reisepaket World Tag können Sie mit 500 MB surfen“, schreibt Vodafone in seiner Roaming-Info. Lieber nicht. Zwei Zigaretten und zwei Fotos später der Rückweg. Aufatmen.
„Die Leute hier haben Angst“
Die nächste Grenze ist nicht weit – die zwischen Polen und dem Nato-Partner Litauen. Hier ist deutlich mehr los: Durch eine Riesenbaustelle wälzen sich Lkw und Autos einspurig zwischen Erdhaufen hindurch. Auf dem ersten Parkplatz hinter der Grenze dann ein Konvoi: Transportpanzer, Haubitzen, Tankfahrzeuge stehen auf Lkw verladen in Kolonne. Die Fahrer dösen hinter ihren halb zugezogenen Gardinen. Ein litauischer Grenzsoldat nimmt sich kurz Zeit: Wo das Material hingeht, will er nicht verraten, nur, dass es Nato-Ausrüstung ist. Sorgen mache er sich keine. Und die Bevölkerung? „Die schon“, sagt er. „Die Leute hier haben Angst.“
So geht es auch der 25-jährigen Aleksandra, die in Suwalki in einem Hotel arbeitet. „Seit dem Angriff auf die Ukraine reden wir im Freundeskreis über nichts anderes mehr“, sagt sie. Alle hätten wahnsinnige Angst: Wenn Putin und Lukaschenko es so wollten, seien sie hier abgeschnitten. „Lukaschenko hat im Fernsehen seinen Landsleuten gesagt, wir würden Soldaten an der Grenze versammeln, um anzugreifen. Aber das stimmt überhaupt nicht!“
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Seit dem Angriff auf die Ukraine malen sich die Menschen hier Szenarien aus, was noch alles passieren könnte, erzählt Agnieszka, die aus Suwalki stammt und inzwischen in Bialystok lebt. Putin sei unberechenbar: „Meine Oma hat noch den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sie sagte immer: Du kannst den Russen nicht trauen.“ Gerüchte machen in der Stadt die Runde: Keller sollten verstärkt werden, der Bürgermeister habe mehrere Generatoren geordert, um im Notfall die Infrastruktur aufrechtzuerhalten, sagt Anna, die eigentlich aus Donezk stammt und schon seit mehreren Jahren in Suwalki lebt. Ob die Gerüchte stimmen, lässt sich nicht verifizieren: Der Bürgermeister antwortet nicht auf Mails.
Aleksandras einzige Beruhigung ist ihre Oma, die in Hessen lebt: „Wenn hier etwas passiert, können meine Mutter und meine Schwestern dorthin.“ Sie selbst wolle hierbleiben: „Ich komme aus Suwalki, und das Einzige, was ich will, ist, in Frieden hier zu leben.“
Was kann Luftabwehr im Fall des Falles leisten?
Der russische Präsident Wladimir Putin lässt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine näher an die Ostflanke der Nato herantragen. Als Russlands Militär Mitte März unweit der polnischen Grenze den Truppenübungsplatz Jaworiw attackierte, waren Explosionen bereits auf dem Bündnisgebiet zu hören. Eine Antwort der Nato: Die Bundeswehr brachte das Flugabwehrraketensystem Patriot auf den Weg in die Slowakei.
Das Patriot-System ist die schnelle Reaktion auf die Bedrohung. Die Waffe dient zur Bekämpfung von Flugzeugen, taktischen ballistischen Raketen und Marschflugkörpern. Der Abschuss erfolgt aus der mobilen Startstation (Launcher), die kistenförmig und hydraulisch ausrichtbar auf einem vierachsigen Lastwagen angebracht ist. Die Abwehrraketen wirken in eine Höhe von 30 Kilometern und können damit anfliegende Flugzeuge und Raketen abfangen.
Deutschland verfügt noch über zwölf Abschussanlagen, von denen nun mindestens eine in die Slowakei geht. Die alte Bundesrepublik hatte allerdings noch 36 Patriot-Launcher. Sie waren Teil von insgesamt 90 Kampfstaffeln der westdeutschen Flugabwehr, die entlang der innerdeutschen Grenze bereit war. Unter Regie des CSU-Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg wurden unter anderem die Patriots zusammengestrichen.
Die Entscheidung, ein russisches Flugzeug mit Patriot-Raketen abzuschießen, ist angesichts des Eskalationspotenzials überaus gewichtig und wird nicht aus dem Feuerleitstand in der Slowkai getroffen, sondern von dem zuständigen Nato-Gefechtsstand in Uedem (Niedersachsen). Und auch noch nach dem Feuerkommando kann die Rakete im Flug deaktiviert werden, wenn der militärische Gegner abdreht.
Das System ist technisch perfektioniert, doch stößt es auch schnell an physikalische Grenzen und eine mögliche Überlastung, zum Beispiel durch eine Vielzahl an Zielen. Die Vorstellung, im Falle eines groß angelegten Angriffs alle Raketen mit einer bodengebundenen Luftabwehr zu zerstören, sei „absurd“, sagen Experten.
Die Hightech-Waffen sind zudem überaus teuer. Schon ein älterer Patriot-Lenkflugkörper PAC-2 kostet zwei Millionen Euro pro Stück, die modernere Variante PAC-3 ist noch teurer. (dpa)