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Ukrainischer Ex-Vizeverteidigungsminister„Putin sind die Menschen völlig egal“

Lesezeit 8 Minuten
TOPSHOT - This photograph taken on February 23, 2025, shows portraits of soldiers in snow at the makeshift memorial paying tribute to Ukrainian and foreign fighters at the Independence Square in Kyiv, on February 23, 2025, ahead of the third anniversary of Russia's invasion of Ukraine. (Photo by Roman PILIPEY / AFP)

Gedenken an die Kriegstoten: Fotos gefallener ukrainischer Soldaten und ausländischer Freiwilliger auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew.

Haben die russischen Angreifer im Krieg gegen die Ukraine die besseren Karten? Das meint US-Präsident Donald Trump. Kann die Ukraine trotzdem durchhalten? Fragen an den ehemaligen ukrainischen Vize-Verteidigungsminister Vitaliy Deynega, Gründer des Medienprojekts „Ukrainian Witness“. Er warnt die Westeuropäer: „Ihr seid die Nächsten.“

Herr Deynega, US-Präsident Donald Trump will ein Ende des russisch-ukrainischen Krieges erreichen und hat Moskau dafür massive Zugeständnisse zulasten Ihres Landes in Aussicht gestellt. Zudem erhebt er Anspruch auf einen erheblichen Teil Ihrer Rohstoffe. Kann die Ukraine diesem Druck standhalten?

Ja, die Ukraine wird dem Druck standhalten. Dafür gibt es viele Gründe: Der erste Grund sind Drohnen. Solange keine der beiden Seiten eine entscheidende Überlegenheit bei Drohnen hat, sind großangelegte Vorstöße in die Tiefe des gegnerischen Territoriums einfach unmöglich. Deshalb wird eine russische Offensive sehr blutig und langsam verlaufen, genauso wie die ukrainische Gegenoffensive im Jahr 2023. Russland wird in diesem Jahr keine Gebietshauptstädte erreichen und eine enorme Anzahl von Soldaten verlieren – selbst wenn die USA ihre Unterstützung für uns vollständig einstellen. Allerdings werden unsere Verluste dadurch erheblich steigen, und es wird für uns immer schwieriger, Europas Schutzschild zu bleiben. Denn, und das betone ich immer wieder: Ihr seid die Nächsten.

Genau uns im Westen Europas will Trump es aber überlassen, einen eventuellen Waffenstillstand zu sichern. Können wir das überhaupt? Was würde da gebraucht?

Es braucht Menschen und Technologie, Munition und Waffen. Munition und Waffen sind eine Frage der Wirtschaft – und eure Wirtschaft ist deutlich größer als die russische. Die Technologie können wir gemeinsam in multilateralen Kooperationsprogrammen entwickeln (das sogenannte dänische Modell). Wenn ihr die nötigen Menschen und den politischen Willen aufbringt, werden wir das gemeinsam bewältigen. Eure Soldaten auf die nächste Generation der Kriegsführung vorzubereiten, wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Drohnen können wir gemeinsam produzieren.

Außerdem kann ich Ihnen als ehemaliger stellvertretender Verteidigungsminister sagen, dass Ihre Armeen katastrophal unvorbereitet auf die neue Art der Kriegsführung sind, die wir derzeit führen.

Schon als Russland Ihr Land vor drei Jahren – erneut – überfiel, setzte auch im Westen eine Debatte darüber ein, ob Hilfe im Kampf gegen Wladimir Putins Truppen überhaupt Sinn habe: Die russischen Ressourcen seien ungleich größer als die ukrainischen. Das meint ja auch Trump heute. Also: Wie lange kann die Ukraine noch durchhalten?

Sie wird dazu in der Lage sein. Die Frage ist nur, innerhalb welcher Grenzen und zu welchem Preis. Heutzutage ist der Krieg durch das Aufkommen von billigen Präzisionswaffen (Drohnen) viel billiger geworden. Mit den richtigen Investitionen in Forschung und Entwicklung und in unsere Verteidigung können wir den Russen asymmetrisch entgegentreten, wie wir es zum Beispiel auf See tun.

Außerdem kann ich Ihnen als ehemaliger stellvertretender Verteidigungsminister sagen, dass Ihre Armeen katastrophal unvorbereitet auf die neue Art der Kriegsführung sind, die wir derzeit führen. Deshalb – falls die Nato versagen sollte (und es gibt immer mehr Gründe, dies zu befürchten) – fürchte ich, dass keine europäische Armee eine ernsthafte Bedrohung für die Russen darstellen wird.

Ich verstehe, dass das unrealistisch klingt. Wirklich, ich verstehe Sie vollkommen. Vor elf Jahren konnten wir nicht glauben, dass Russland die Krim angreifen würde. Vor drei Jahren hielten wir eine großangelegte Invasion für undenkbar. An solche Dinge glaubt man erst, wenn sie bereits geschehen.

Nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj sind über 45.000 ukrainische Soldaten gefallen. Das Wall Street Journal geht von 400.000 Gefallenen und Verwundeten aus, davon 80.000 Toten. Was stimmt?

Ich habe im Moment keinen Zugang zu den genauen Zahlen. Aber ich denke, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.

Auch wenn Sie sich nicht auf eine Zahl festlegen können: Schon 45.000 Gefallene sind doch ein furchtbarer Verlust. Hinzu kommen die zivilen Opfer russischer Luftangriffe, die Verschleppten, die Ermordeten. Was bewirkt das in Ihrem Land?

Es wirkt sich negativ aus. Aber leider ist bereits eine Normalisierung im Gange, denn wir gewöhnen uns daran, unter diesen Bedingungen zu leben. Meine Kollegen von Ukrainian Witness und der Künstler Oleksiy Say und ich haben sogar ein großes Kunstwerk auf dem amerikanischen Festival Burning Man geschaffen, bei dem wir aus den Überresten der von den Russen zerstörten Gegenstände eine riesige Inschrift „I'm fine“ zusammengesetzt haben. Es geht darum, dass wir solche schrecklichen Dinge bereits aufrichtig als Normalität wahrnehmen und dass wir selbst unter solchen Umständen in die Zukunft schauen und „fine“, „gut“ sein wollen. Dass dies keine Redewendung ist, sondern unsere bewusste Entscheidung, unter allen Umständen zu leben. Denn man weiß nie, was morgen passiert und ob es überhaupt passiert.

Sie dokumentieren die Realität des Krieges. Zerstörte zivile Infrastruktur, Kriegsverbrechen. In Deutschland sagen Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger, so etwas sei nun einmal Folge eines Krieges, also solle die Ukraine nachgeben, dann höre das Sterben auf. Ist das so?

In jedem Krieg gibt es jemanden, der vorschlägt, dem Täter zu geben, was er will, um das Leid, das der Krieg verursacht, zu beenden. Aber es endet immer schlecht. Solange es Kriege gibt, wird sich auch ein Chamberlain finden. (Anm. d. Red: Der britische Premier Neville Chamberlain war maßgeblich am Münchner Abkommen mit Hitler 1938 beteiligt, das die Tschechoslowakei zur Abtretung von Gebieten an das Deutsche Reich zwang).

Wenn die deutsche Regierung drei Milliarden Euro Hilfsgelder erst einmal zurückhält oder wenn sogar Ungewissheit herrscht, ob Donald Trump die Ukraine nun weiter beliefern wird oder nicht – so etwas können Sie doch kaum ausgleichen, oder?

Was wir nicht in Form von Granaten bekommen, werden wir mit Geld für ukrainische Drohnen kompensieren müssen, das wir entweder aus den Resten der ukrainischen Wirtschaft oder aus den Resten der Ausgaben für Medizin, Bildung usw. nehmen werden, aber das wird nicht reichen, also werden wir die Differenz natürlich mit Territorien und Menschenleben bezahlen. Im Krieg hat dies und jenes einen ganz bestimmten Preis, der sich berechnen lässt. Krieg ist eine sehr pragmatische Angelegenheit, egal wie viel Heuchelei und Pathos es darum gibt.

Bedeutet das: Sie trauen Ihren Streitkräften zu, notfalls auch ohne US-Unterstützung auszukommen?

Das wird äußerst blutig sein und offensive Operationen nahezu unmöglich machen. Aber es ist nicht so, als hätten wir eine Wahl.

Der Westen ist dabei, die Ideale von Demokratie und Freiheit zu verraten. Jeder sieht das und wird sich daran erinnern.

Wie stark hängt die Ukraine von Trumps Entscheidungen ab? Sie mussten letztes Jahr ein halbes Jahr praktisch ohne US-Hilfe durchhalten – aber ginge das längerfristig?

Es war ein extrem schwieriges halbes Jahr, und danach haben wir doppelt so viel Hilfe erhalten (wegen der fehlenden Monate). Ich denke, jeder versteht, was passieren wird - es wird den Tod einer gewissen Anzahl der besten Söhne und Töchter unseres Landes geben, den Verlust von Gebieten und den Verlust des Vertrauens in den kollektiven Westen als Träger und Verteidiger humanistischer Werte. Der Westen ist dabei, die Ideale von Demokratie und Freiheit zu verraten. Jeder sieht das und wird sich daran erinnern. Genauso wie wir uns daran erinnern, wie wir mit dem Budapester Memorandum getäuscht wurden. Ich denke, dass es danach fast unmöglich sein wird, mit irgendeinem Land über nukleare Abrüstung oder die Begrenzung des Einsatzes von künstlicher Intelligenz im Militär zu verhandeln. Die Folgen werden wir alle gemeinsam zu spüren bekommen. Einige von uns politisch und wirtschaftlich, und einige von uns kinetisch.

Andererseits: Wir diskutieren viel über Lieferungen von Waffen und Munition – aber die Ukraine braucht Menschen, Soldaten, die diese Waffen einsetzen. Haben Sie da noch genug Potenzial?

Russland löst dieses Problem, indem es nicht nur seine Bürger, sondern auch Ausländer einbezieht. Ich denke, dass wir früher oder später auch dazu kommen werden. Aber zum Glück ist das Mobilisierungspotenzial des Landes noch nicht ausgeschöpft. Auf jeden Fall schätzen und schützen wir das Leben eines Soldaten viel mehr als die Russen. Ich denke, das sieht man an den Verlusten, egal welche Zahlen man angibt - sie sind alle sehr aussagekräftig.

Ich nehme seit Jahren eine sehr kontroverse Diskussion um die ukrainische Rekrutierungspolitik wahr. Auch Sorgen wie diese: Wenn wir sehr junge Leute einziehen, haben sie möglicherweise gar keine Chance mehr, eine Familie zu gründen. Und die Menschen, die an der Front kämpfen müssen, fehlen in der Wirtschaft. Wie sollte Ihre Regierung vorgehen?Ich denke, wenn es ums Überleben geht, werden viele Fragen zweitrangig. Und es stimmt nicht, dass jeder, der in den Krieg zieht, dort stirbt. Die allermeisten kommen wieder zurück. Aber der Krieg trägt sicherlich nicht zur Gesundheit bei, insbesondere nicht zur reproduktiven.

Hat ein Diktator wie Wladimir Putin es da einfacher?

Ja, einfacher. Ihm sind die Menschen völlig egal. Und das passt ihm und ihnen. Die russischen Rekruten sind mit allem einverstanden, sonst würden sie keine Verträge unterschreiben. Sie haben diese Spielregeln akzeptiert

Nach Umfragen des Kyiv International Insitute of Sociology ist das Vertrauen in Präsident Selenksyj erkennbar gesunken – von 77 Prozent Ende 2023 auf jetzt 57 Prozent -, und die Bereitschaft zu Gebietsabtretungen ist gewachsen, innerhalb von nur einem Jahr von 19 auf 38 Prozent. Kommt Putin seinem Ziel näher, die Bevölkerung zu demoralisieren?

Natürlich gibt ein so schwerer und langer Krieg niemandem Optimismus. Aber man muss verstehen, dass auch die russischen Ressourcen nicht unbegrenzt sind und viele ihrer Aussagen nur Bluff sind. Ich glaube daran, dass wir den Krieg zu Bedingungen beenden können, die als mehr oder weniger gerecht angesehen werden – und die es dem Westen ermöglichen, sein Gesicht zu wahren.

Wenn Ukrainer gefragt werden, ob sie bereit sind, Gebiete aufzugeben, wird ihnen als Alternative ein ziemlich abstrakter Frieden angeboten. Doch irgendetwas sagt mir, dass, wenn man diesen Frieden genauer beschreiben würde, es klar werden würde, dass es sich um eine Kapitulation und eine Pause vor dem nächsten, entscheidenden Schlag Russlands handelt. Und irgendetwas sagt mir, dass sich die Ukrainer zwischen diesen beiden Alternativen dennoch für den Kampf entscheiden würden.

Vitaliy Deynega / Witalij Dejnega

Der ehemalige ukrainische Vize-Verteidigungsminister Vitaliy Deynega

Vitaliy Deynega, Jahrgang 1983, war im Jahr 2023 ukrainischer Vize-Verteidigungsminister und leistete entscheidende Beiträge zur Modernisierung der Streitkräfte vor allem hinsichtlich ihrer digitalen Infrastruktur. Der IT-Spezialist hatte kurz nach der russischen Okkupation der Krim und von Teilen des Donbass 2014 die Stiftung „Come Back Alive“ mit ins Leben gerufen, die Unterstützung für die ukrainische Armee sammelt und die er bis 2020 führte. Aktuell engagiert er sich für das von ihm 2022 gegründete Medienprojekt „Ukrainian Witness“, das Zeugnisse russischer Kriegs- und Besatzungsverbrechen in der Ukraine dokumentiert.