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Wie die Ukraine auf Russlands Donbass-Offensive reagiert„Wir kaufen uns Zeit bis zu den Waffenlieferungen“

Lesezeit 8 Minuten
Dieses von den ukrainischen Streitkräften veröffentlichte Foto zeigt beschädigte russische Panzer auf einem Feld nach einem Angriffsversuch. Der Kampf um die kleine Bergbaustadt Wuhledar an der östlichen Frontlinie der Ukraine hat sich zu einem entscheidenden Brennpunkt im Kampf um die Provinz Donezk entwickelt. Die Sicherung der Stadt würde sowohl den ukrainischen als auch den russischen Truppen eine taktische Überlegenheit im Kampf um die Donbass-Region verschaffen.

Zerstörte russische Panzer vor Wuhledar. Das Foto wurde von den ukrainischen Streitkräften veröffentlicht.

Russland ist im Osten der Ukraine zum Angriff übergangen. Warum jetzt? Und wie sind die bisherigen Ergebnisse? Ein britischer Militärhistoriker hat sogar eine erstaunliche Parallele zum Ersten Weltkrieg gezogen.

Keine gute Zeit für Offensiven: Der Winter in der Ostukraine ist milder als gewohnt. Zum Wochenende hin dürften die Temperaturen mancherorts den Gefrierpunkt überschreiten, Schnee könnte schmelzen. Im März werden die Böden erst recht zu Matschflächen, kaum befahrbar für Radfahrzeuge. Trotzdem versuchen russische Truppen hier auf breiter Front voranzukommen. Warum gerade jetzt?

Was will Moskau mit seiner Offensive erreichen?

Seit Wochen hatten westliche Beobachter eine russische Großoffensive erwartet, spätestens zum Jahrestag des Überfalls am 24. Februar. Am Dienstag hat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg dann festgestellt: Diese Offensive läuft bereits. „Ich denke, die Offensive hat schon vor Wochen begonnen“, hatte der US-Analytiker Michael Kofman bereits vor einigen Tagen getwittert. Aber: „Sie ist auf den Donbass fokussiert und bisher nicht sehr überzeugend.“ Vorsichtiger die Analyse des australischen Ex-Generals Mick Ryan: Derzeit sehe man „Präliminarien“. Demnach könnte sich noch mehr kommen. Der Gouverneur der russischen Region Kursk, Roman Starowoit, bestätigte Ende Januar, dass sein Land dort zusätzliche Truppen zusammenziehe. Anzeichen für ähnliche Angriffsvorbereitungen im Norden, etwa aus Belarus Richtung Kiew, wurden bisher nicht beobachtet.

Ryan sieht drei Gründe dafür, dass der russische Präsident Wladimir Putin gerade jetzt das Risiko einer solchen Offensive eingeht. Zum einen den politischen: Putin brauche unbedingt, geradezu verzweifelt einen Sieg – aus innen- wie außenpolitischen Gründen. Ferner wolle er einer ukrainischen Frühjahrsoffensive zuvorkommen. Dabei habe er – drittens – auch die neuen westlichen Waffenlieferungen im Blick, die vom Frühjahr an zu erwarten sind. Denn, so Ryan: „Im zweiten Quartal 2023 wird das ukrainische Offensivpotential wahrscheinlich viel größer sein als bei den Offensiven des letzten Jahres bei Charkiw und Cherson.“ Da suche Putin nach einer besseren Ausgangsstellung für seine Truppen. Er handelt nach dieser Analyse also als Getriebener.

Wie ist die Lage in Bachmut?

Im Januar hatte der französische Militäranalyst Cedric Mas bei der Betrachtung russischer Vorstöße zwei Dinge empfohlen: „geografisch reinzoomen, zeitlich rauszoomen“. Im Klartext: darauf schauen, wie lange die russischen Truppen brauchen, um kleine Geländegewinne zu machen – und in welchem Verhältnis dies zum gesamten Kriegsverlauf mit den großen ukrainischen Rückeroberungen steht. Unglaubliche siebeneinhalb Monate lang währt nun schon die Schlacht um Bachmut. Russland hat umliegende Gebiete wie die Kleinstadt Soledar besetzt, es aber bis jetzt nicht geschafft, Bachmut einzukesseln.

Die Nachrichten aus Bachmut sind widersprüchlich. Einerseits drängt die Ukraine die Bewohner (noch halten sich 5000 von einst 70 000 dort auf) zum Verlassen der Stadt und hat in dieser Woche den Zugang für Auswärtige gesperrt. Das könnte als Vorbereitung auf einen Abzug gedeutet werden, den auch westliche Experten wie Nico Lange oder Markus Reisner erwarten. Andererseits hat die Ukraine Verstärkungen nach Bachmut geschickt und die Front in den letzten Tagen anscheinend stabilisieren können. Nach Einschätzung des US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) sehen viele Nato-Staaten die ukrainische Fixierung auf Bachmut zwar mit Sorge, doch sei sie strategisch nachvollziehbar. Die Söldnergruppe Wagner müsse ihre Kräfte in den Kämpfen verausgaben, russische Fallschirmjäger seien hier gebunden – das schwäche die Angreifer und erhöhe die Aussichten einer späteren ukrainischen Gegenoffensive. „Wir kaufen uns dort gerade Zeit bis zu den Waffenlieferungen, bis unsere Armee gestärkt wird“, hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem „Spiegel“ gesagt.

Wie sieht es im Norden des Donbass aus?

Weiter nördlich, ganz im Norden des Donbass, war die Ukraine noch im Januar in der Offensive, Russland hat die Initiative zurückgewonnen. Hier geht es nicht um eine einzelne Stadt, sondern um einen rund 170 Kilometer langen Gebietsstreifen im Grenzgebiet zum Bezirk Charkiw, von der russischen Grenze bis zum Dorf Bilohoriwka nahe Lyssytschansk am Fluss Siwerskyj Donez. Im Fokus steht unter anderem die bereits im Bezirk Charkiw liegende Stadt Kupjansk. Die Ukraine hatte sie im Herbst zurückerobert und damit eine zentrale russische Bahn-Nachschublinie für die Donbass-Front unterbrochen. Weiter im Westen versucht Russland auf die Kleinstadt Lyman vorzurücken. Sie gilt als nördlicher Ansatzpunkt eines möglichen Zangenangriffs auf die noch ukrainisch gehaltenen Teile des Bezirks Donezk. Bisher hat Russland hier aber nur minimale Gebietsgewinne erzielt.

Was passiert im Süden?

Der dritte Brennpunkt der russischen Donbass-Offensive heißt Wuhledar, ein Bergbaustädtchen im Süden des Bezirks Donezk. In der Nähe dieses von der Ukraine gehaltenen Ortes knickt die Frontlinie in Westrichtung ab. Für Russland ist das ein neuralgischer Punkt. Nur 35 Kilometer von Wuhledar entfernt, in Wolnowacha, zweigt die einzige Eisenbahnstrecke im russisch besetzten Gebiet ab, die Donezk und Mariupol mit dem Hinterland der Krim und der Halbinsel selbst verbindet. Sie verläuft dicht hinter der Front – in Reichweite der ukrainischen Artillerie – und ist damit für das russische Militär praktisch nicht nutzbar.

Das bisherige Ergebnis der Kämpfe hier ist für Russland verheerend. „In Wuhledar passiert komplette Scheiße, wieder und wieder“, heißt es im der Gruppe Wagner nahestehende Telegram-Kanal „Greyzone“. Der frühere russische Geheimdienstler Igor Girkin alias Strelkow klagte, die Ukrainer hätten eine russische Panzerkolonne „wie in der Schießbude“ ausschalten können. US-Analyst Rob Lee zählte allein auf diesem von Girkin aufgegriffenen Videodokument (ob alle Aufnahmen wirklich bei der gleichen Aktion entstanden, ist unklar) 31 zerstörte russische Panzerfahrzeuge, darunter 15 Kampfpanzer. Glaubt man dem Magazin „Politico“, dann ist die 155. russische Marineinfanteriebrigade mit 5000 Mann – eigentlich eine Elitetruppe, aber zu großen Teilen mit Reservisten aufgefüllt – fast komplett aufgerieben worden.

Westlich von Wuhledar, im Bezirk Saporischschaja, gibt es kleinere russische Vorstöße, und am Unterlauf des Dnipro kämpfen beide Seiten um Inseln nahe dem linken, russisch gehaltenen Flussufer. Zudem hat Russland Wasser aus dem Kachowkaer Dnipro-Stausee abgelassen. Der trennt ukrainische und russische Truppen. Eine Wasserfläche wäre aber für die Ukrainer leichter zu überqueren als das jetzt entstandene breite Schlammgebiet. Von Wuhledar bis in die Nähe von Cherson geht es damit um das gleiche Ziel: Russland will das Rückgrat seiner Kriegslogistik, die zu Kriegsbeginn eroberte Landbrücke zur Krim, schützen.

Was sieht die bisherige russische Bilanz aus?

Die russischen Truppen erlitten bei ihrer derzeitigen Offensive so hohe Verluste wie zuletzt bei Kriegsbeginn, hat der britische Militärgeheimdienst erklärt. Die ukrainischen Angaben über russische Gefallene (zuweilen 800 am Tag!) seien der Tendenz nach plausibel.

Folgt man dem britischen Verteidigungsminister Ben Wallace, dann hat Russland seine verfügbaren Einheiten nahezu komplett in der Ukraine im Einsatz. Ein Indiz dafür ist die Lage auf der strategisch immens wichtigen Halbinsel Kola nahe der norwegischen Grenze: Hier sind nach norwegischen Geheimdienstangaben nur noch ein Fünftel der früher dort stationierten Soldaten im Einsatz – was übrigens belegt, dass Russland nicht vorhat, den Krieg zu einem militärischen Konflikt mit der Nato zu eskalieren. Drei Bataillonsgruppen à 3000 Mann seien von Kola in die Ukraine verlegt worden, von diesen Soldaten sei die Hälfte gefallen.

Was könnte im Frühjahr passieren?

Vor dem Krieg habe die ukrainische Armee 27 Brigaden gehabt, jetzt seien es wohl 80 und damit mehr, als die Nato in Europa habe, sagte der italienische Analyst Thomas Theiner der „Welt“: „Großbritannien hat alle zwei Monate 5000 ukrainische Soldaten ausgebildet, Polen trainierte jeden Monat 5000 Mann.“ Trotz der Verstärkungen für Bachmut hält die Ukraine aber offenbar einen großen Teil ihrer Kräfte zurück. Sie wartet auf neue westliche Waffen. US-Amerikanische Bradley-Schützenpanzer sind in Bremerhaven angekommen. Dagegen haben die westlichen Partner die versprochenen zwei Leopard-2-Bataillone (62 Panzer) noch nicht zusammenbekommen.

Der Mangel an Waffen bremse die Ukraine aus, hatte das ISW Ende Januar beklagt. Einer der ganz Großen der Militärgeschichtsschreibung verbreitet mehr Zuversicht. Die Ukrainer müssten die aktuellen Angriffe auffangen, „ohne allzu viel Grund aufzugeben“, schreibt der britische Militärhistoriker Lawrence Freedman. „Sie müssen aufpassen, dass sie nicht in überstürzte Aktionen hineingezogen werden, bevor ihre neuen Offensiveinheiten einsatzfähig sind.“ Putin wisse dagegen nach wie vor nicht, wie er aus diesem Krieg herauskommen könne, ohne dass sein Scheitern offenkundig werde.

Putins größte Hoffnung ist wohl ein Ermüdungseffekt bei den westlichen Partnern. Das ISW hat die Abfolge russischer PR-Kampagnen rekonstruiert: Erzählungen von der unüberwindlichen Stärke der russischen Truppen, dann atomare Drohungen, die zusammenbrachen, als China auf Distanz ging und die USA deutlich machten, dass sie auf einen russischen Atomschlag in der Ukraine nicht nuklear, aber sehr wohl konventionell reagieren würden. Schließlich im Dezember das Spiel mit vermeintlicher Verhandlungsbereitschaft. Das ISW meint, diese PR-Kampagnen hätten zur Verzögerung westlicher Waffenlieferungen beigetragen. Verhindert haben sie sie nicht. Als Erfolg darf Russland es sich sicher zurechnen, dass Starlink-Chef Elon Musk dem ukrainischen Militär die Nutzung seiner Satellitenterminals verwehrt.

Wie werden Historiker einst die russische Winteroffensive im Donbass einordnen? Freedman erinnert an den Ersten Weltkrieg, in dem die übereilte deutsche Frühjahrsoffensive 1918 die deutsche Niederlage eingeleitet hatte. Skeptiker wie Johannes Varwick aus Halle, ein Unterzeichner der jüngsten Friedenspetition von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, relativieren dagegen jeden denkbaren Erfolg: „Was immer wir tun, Russland ist in der Lage, auf einer neuen Ebene noch eins draufzusetzen“, sagte er jüngst bei einem Streitgespräch in Frankfurt. Tatsächlich – oder hat sich Russland bereits zu stark verausgabt? Darauf scheinen Leute wie Freedman zu setzen: Am Ende, davon ist der Brite überzeugt, werde „die Ukraine an der Reihe sein“.