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Interview zum Ukraine-Krieg„Gibt man Putin die Möglichkeit, wird er sich an Nato-Gebiet wagen“

Lesezeit 7 Minuten
Christoph Heusgen, der ehemalige deutsche UN-Botschafter, gibt im UN-Hauptquartier in New York eine Pressekonferenz

Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz

Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, sieht den Schlüssel zum Ende des Ukraine-Krieges in Verhandlungen und einen Nato-Beitritt der Ukraine als Beitrag zum Schutz Europas.

Sollte die Ukraine doch noch Mitglied der Nato werden? Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, spricht sich dafür aus. Zudem warnt der ehemalige Berater von Ex-Kanzlerin Angela Merkel davor, sich in Bezug auf die Rolle Chinas Illusionen hinzugeben.

Herr Heusgen, der Rückzug der Russen aus Cherson und territoriale Rückeroberungen der Ukraine haben die Hoffnung geweckt, dass der Krieg bald vorbei sein könnte. Sind solche Hoffnungen verfrüht?

Für die nächsten Monate sehe ich keine Lösung des Konflikts. Dazu sind die politischen Positionen Russlands und der Ukraine zu weit auseinander. Wenn sich im nächsten Jahr aber militärisch herausstellt, dass keine Seite echte Fortschritte machen kann und sich der Frontverlauf verfestigt, könnte der Druck und die Bereitschaft, zu Verhandlungen zu kommen, auf beiden Seiten größer werden.

Ehemaliger UN-Botschafter: Friendensschluss solle an die Rückgabe des ukrainischen Territoriums geknüpft werden

Wie sinnvoll ist es von der ukrainischen Regierung, auf der Maximalforderung zu bestehen, erst in Verhandlungen zu treten, wenn sich Russland aus besetzten Gebieten zurückzieht?

Das ist keine Maximalforderung, sondern eine Forderung, die internationalem Recht entspricht. Russland hat gegen das Völkerrecht, gegen Verträge, die es mit der Ukraine geschlossen hat, verstoßen. Deshalb habe ich volles Verständnis dafür, einen Friedensschluss an die Rückgaben des der Ukraine völkerrechtlich zustehenden Territoriums zu knüpfen. Warum soll die Ukraine im Vorfeld Zugeständnisse machen, wenn der Verhandlungspartner nicht gewillt ist, irgendwelche Abstriche zu machen? Im Übrigen wird Russland auch Reparationen zahlen und für die begangenen Kriegsverbrechen werden die russischen Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden müssen.

Ex-CIA-Chef David Petraeus hat gesagt, der Krieg lasse sich nicht durch einen militärischen Sieg beenden, sondern nur auf dem Verhandlungsweg. Hat er Recht?

Ich schätze General Petraeus sehr, halte seine Feststellung aber für verfrüht. Wir haben schon eine ganze Reihe hochdekorierter Ex-Generäle gesehen, die die Verteidigung der Ukraine von Beginn an abgeschrieben haben. Es ist bekanntlich anders gekommen.

Wie stark oder schwach ist denn Moskaus Armee?

Im Gegensatz zum ukrainischen Militär sind die russischen Truppen schlecht ausgerüstet, schlecht geführt und schlecht motiviert. Ein Vorteil besteht jedoch in der großen Anzahl von Menschen, die Präsident Putin in den Krieg schicken kann. Menschliche Verluste spielen für den Kremlchef keine Rolle. Es stellt sich aber die Frage, wie weit die russische Bevölkerung Putin mittelfristig folgt. Irgendwann wird sie vielleicht nicht mehr alles mit sich machen lassen, es gibt Grenzen, schließlich sind bereits Tausende Soldaten gestorben. Schon bei der ersten Invasion 2014/15 haben sich irgendwann die Soldatenmütter lautstark gemeldet; ohne sie hätte sich Putin vielleicht nicht auf das Minsker Abkommen mit der Ukraine eingelassen.

Wie lange wird der Westen die Widerstandskraft der Ukraine noch stärken können? Schon jetzt gibt es Engpässe zum Beispiel beim Bestellen von Ersatzteilen für die Panzerhaubitze 2000.

Das liegt an uns. Wichtig ist, dass genug Nachschub für bereits geliefertes Gerät zur Verfügung steht. Wenn die Länder, die an der Seite der Ukraine stehen, Waffen und Munition liefern, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe leisten und den Geflüchteten verlässlich beistehen, dann gibt es eine gute Chance, dass die Ukraine die Verteidigung weiterführen und erfolgreich beenden kann.

Neue Umfragen zeigen aber, dass die Unterstützung in Deutschland und der EU für die Ukraine bei gleichzeitig wachsenden Entbehrungen längst nicht mehr so groß wie vor ein paar Monaten ist. Muss das nicht politische Konsequenzen haben?

Weiterhin ist politische Führung gefragt, die eines unmissverständlich klar macht: Putin hat das Ende der Sowjetunion als die größte Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts bezeichnet, weil sie viele Russen außerhalb des russischen Gebietes hat stranden lassen. Und das will er rückgängig machen. Wenn man Putin also die Möglichkeiten lässt, wird er sich über kurz oder lang auch an Nato-Gebiet wagen. Die Menschen im Baltikum, wo sich viele Russen während der sowjetischen Besatzungszeit niedergelassen haben, gehen fest davon aus, dass sie als nächstes dran wären, wenn Moskau bei der Vernichtung der Ukraine erfolgreich sein würde. Die Ukraine kämpft also auch für unsere Freiheit. Deshalb müssen wir weiter mit dem Land solidarisch sein.

Welche Rolle könnte China für einen Friedensschluss spielen?

Da sollte man sich keinen Illusionen hingeben. China ist zwar nicht an einer Eskalation gelegen, deshalb hat es sich im Rahmen der G20 gegen den Einsatz von Atomwaffen ausgesprochen. Aber China verletzt ja selbst auch das Völkerrecht, in Hongkong, im Südchinesischen Meer und im Umgang mit Minderheiten. Zu glauben, Peking könnte Russland komplett fallen lassen, wäre naiv. China hat ein Interesse an den russischen Rohstoffen und daran, Russland zu einer Art Juniorpartner zu machen.

Als jüngst eine fehlgeleitete Rakete auf polnischem Boden niederging, hat Kiew geradezu versucht, den Nato-Bündnisfall herbeizureden. Tut man sich damit einen Gefallen? Zumal sich schließlich herausgestellt hat, dass es ein ukrainisches Abwehrgeschoss war.

Man muss das vor dem Hintergrund der verzweifelten Lage sehen, in der sich Kiew befindet. Grundsätzlich muss man bei solchen Zwischenfällen natürlich einen nüchternen Kopf behalten und die Nerven bewahren. Das hat das Nato-Bündnis getan.

Wie groß ist das Risiko, dass es in näherer Zukunft tatsächlich zum Bündnisfall kommen könnte?

Putin weiß, dass ein Kriegseintritt der Nato für sein Land in der Katastrophe enden würde. Das wird er nicht riskieren.

Anders als 2008 sollte man einen Nato-Beitritt der Ukraine nicht mehr kategorisch ausschließen.
Christoph Heusgen

Deutschland hat angeboten, Patriot-Flugabwehrsysteme in Polen zu stationieren, um die Ostflanke der Nato noch besser zu schützen. Warschau hält es für zielführender, wenn Deutschland die Patriot-Batterien direkt an die Ukraine gibt. Was sagen Sie?

Die Stationierung von deutschen Patriot-Flugabwehrsystemen in der Ukraine sollte nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die Systeme sind grundsätzlich auch von Ukrainern zu bedienen. Und als reine Abwehrwaffe würde sie wirklich zum Schutz der Ukraine beitragen und so natürlich auch Polens.

Der Vorfall im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet hat die Debatte über einen Nato-Beitritt der Ukraine wieder angefacht. Wie sehen Sie das?

Anders als 2008 sollte man einen Nato-Beitritt der Ukraine nicht mehr kategorisch ausschließen – nach einem möglichen Friedensschluss. Denn Russlands Aggressivität und die Erfahrung, dass es sich nicht an Vereinbarungen hält, beispielsweise an die abgegebene Garantie zur territorialen Integrität der Ukraine, müssen zum Umdenken anregen. Denn wer garantiert, dass Russland auch nach einem Friedensschluss nach ein paar Jahren der Pause und erneuter Aufrüstung die Ukraine nicht wieder angreift? Ein Nato-Beitritt der Ukraine erhöhte den Preis dramatisch, den Moskau für ein solches Vorgehen zahlen müsste.

Wäre es nicht vielmehr eine Provokation für Moskau?

So würde es die russische Propaganda sicher darstellen. Aber das sollte uns nicht beeindrucken. Ein Beitritt der Ukraine zur Nato wäre keine Provokation, sondern würde die klare Botschaft an Moskau senden: Aus Erfahrung wissen wir, dass wir euch nicht vertrauen können und deshalb bauen wir vor. Das trüge auch der Sicherheit Europas Rechnung.

Apropos Sicherheit: Mit der besseren Austattung der Bundeswehr angesichts der russischen Bedrohung geht es nicht recht voran. Droht die vom Kanzler angekündigte „Zeitenwende“ zum Rohrkrepierer zu werden?

Ich hoffe, dass sich das Momentum der „Zeitenwende“ verstetigt. Derzeit ist das Bild, das Deutschland nach außen abgibt, keines der Entschlossenheit. Im Haushaltsplan für das kommende Jahr sind wir noch immer nicht beim Zwei-Prozent-Ziel für Verteidigung. Und zwischen dem Verteidigungsministerium und der Industrie schiebt man sich den Schwarzen Peter für die Probleme bei der Beschaffung von Munition und Ausrüstung hin und her. Das muss dringend aufhören. Ein solcher Streit spielt nur Putin in die Hände. Wir dürfen nicht zurückfallen in den alten Trott. Schon 2014 hat die Bundesregierung gegenüber den Nato-Partnern zugesagt, zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes für Verteidigung auszugeben. Fast zehn Jahre später haben wir das Ziel immer noch nicht erreicht. Damit steht Deutschlands Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Wie will man so die zugesagte internationale Führungsrolle übernehmen? Und Russlands Präsident Putin interessiert nur eins: Treten wir einem Aggressor entschlossen entgegen oder nicht?