AnalyseStand der militärischen Lage in der Ukraine
Kiew – Der Angriff auf Kiew steht still. Die russische Armee gräbt sich offenbar vor der ukrainischen Hauptstadt ein und sieht sich derzeit mit ukrainischen Gegenstößen konfrontiert. Leichte Geländegewinne verzeichnet sie immerhin im Osten und Süden des Landes.
Dort allerdings ist die Ukraine nach Erkenntnissen des britischen Verteidigungsministeriums am Donnerstag dazu übergegangen, den russischen Nachschub zu attackieren. Aufnahmen, die aus der besetzten Hafenstadt Berdyansk am Asowschen Meer stammen sollen, zeigen einen Luftschlag auf Versorgungsschiffe.
In diese Gemengelage fügen sich Meldungen des ukrainischen Generalstabes, wonach dezimierte russische Einheiten sich vom Nordosten der Ukraine vorerst auf russisches Territorium zurückgezogen hätten. Von russischer Seite finden sich dazu keine Informationen, vielmehr vermeldete sie gestern den erfolgreichen Angriff auf ein Treibstofflager bei Kiew.
Schwächen und Fehleinschätzungen
Obschon Einzelheiten zur militärischen Lage oft schwer zu prüfen sind, verdichten sich die Hinweise: Der russische Angriff auf die Ukraine läuft nicht so, wie er ursprünglich geplant war. Sein Charakter ändere sich, erklärt Severin Pleyer. „Der Blitzkrieg ist gescheitert und geht in einen Abnutzungskrieg über, das zeichnet sich schon etwas länger ab.“
Pleyer ist Militärexperte beim German Institute for Defense and Strategic Studies. Seinen Einschätzungen zufolge offenbare der bisherige russische Vormarsch nicht nur die häufig kolportierten logistischen und kommunikativen Schwächen, sondern auch Fehleinschätzungen taktischer und operativer Art.
Als Beispiel führt er die Luftlandeoperation russischer Fallschirmtruppen um den Flughafen Hostomel nördlich von Kiew in den ersten Kriegstagen an: „Gut ausgebildete Einheiten sind dort ohne Aussicht auf schnelle Verbindungen zur eigenen Truppe abgesetzt und von den Ukrainern aufgerieben worden.“
Verlust von 40.000 russische Soldaten laut Nato-Schätzungen
Wie hoch der Preis ist, den die russische Armee für Fehlschläge wie diesen zahlt, ist unklar. Zahlen zu eigenen Verlusten gab der russische Generalstab zuletzt gestern bekannt: Demnach seien bei der „Spezialoperation“ in der Ukraine 1351 russische Soldaten getötet und 3825 verletzt worden.
Zuvor hatte Russland am 5. März erstmals eigene Verluste eingeräumt. Die ukrainische Armee beziffert die russischen Verluste derzeit auf fast 16000 getötete Soldaten. Im Online-Auftritt der russischen „Komsomolska Prawda“ tauchte vor einigen Tagen die Zahl 9861 auf, sie verschwand schnell wieder aus dem Netz.
Laut jüngsten Schätzungen der Nato hat Russlands Armee durch Tod, Verletzungen, Gefangenschaft und Desertation bislang 40000 Soldaten verloren. Angaben zu ukrainischen Verlusten gibt es hingegen kaum. Lediglich einmal, am 12. März, erklärte Präsident Selenskyj: Bislang seien etwa 1300 Soldaten gefallen.
Die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti behauptete gestern unter Berufung auf den Generalstab, die ukrainischen Verluste lägen bei „ungefähr 30000 Mann“, darunter seien 14000 Gefallene.
Tatsächliche Verluste sind „bestgehütete Geheimnisse“
Die Aufrechnung von Verlusten mag eine zynische Übung sein. Sie sei aber aus militärischer Logik heraus unerlässlich, um die Durchhaltefähigkeit von Streitkräften verlässlich einschätzen zu können, erklärt der Militärökonom und ehemalige Bundeswehrgeneral Jürgen Schnell: „Die tatsächlichen Verluste beider Seiten sind die bestgehüteten Geheimnisse jedes Krieges.“
Die Generalstäbe beider Seiten dürften aber sehr genaue Erkenntnisse über eigene Verluste haben. Öffentlich vermeldeten Zahlen sei hingegen grundsätzlich mit Skepsis zu begegnen. „Aus Studien wissen wir, dass im Mittel je Kriegswoche ein bis anderthalb Prozent der mobilisierten Soldaten einer Armee getötet werden. Diese Zahlen sollte man auch bei diesem Krieg anlegen.“
Die Wahrheit über die russischen Verluste läge – eine Invasionsarmee von 150000 Mann angenommen – damit etwa in der Mitte der Zahlen, die Kiew und Moskau verkünden.
Militäranalyst: Ukrainische Armee taktisch flexibler
Militäranalyst Pleyer bewertet das anders: „Ich vermute, dass die Wahrheit näher bei den ukrainischen Zahlen liegt.“ Die ukrainische Armee erweise sich im taktischen Bereich deutlich flexibler als ihr Gegner und sei offenbar zu verheerenden Schlägen auf Fahrzeugkolonnen und Nachschublinien in der Lage.
Verantwortlich dafür seien moderne westliche Waffen und ein modernes Führungsverständnis ukrainischer Kommandeure. „Die russische Armee ist sehr hierarchisch organisiert. Die Strukturen lassen Frontkommandeuren nur begrenzten Spielraum, um schnelle Entscheidungen zu treffen. Und teilweise sind sie das wohl auch schlicht nicht gewohnt“, erklärt Pleyer.
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In den ukrainischen Streitkräften habe sich hingegen nach 2014 das Konzept „Führen mit Auftrag“ durchgesetzt, dass Truppenführern vor Ort ausdrücklich dazu ermuntere, schnelle und unabhängige Entscheidungen zu treffen. „Bislang deutet alles darauf hin, dass Taktik, Führung und die zur Verfügung stehenden Waffen sehr gut aufeinander abgestimmt sind.“
Beleg dafür sind möglicherweise auch die vergleichsweise hohen Verluste unter russischen Truppenkommandeuren: Bislang sechs russische Generäle und eine ganze Reihe weiterer hochrangiger Offiziere haben die Ukrainer ausgeschaltet. Womöglich auch deswegen, weil sie dabei auf Informationen westlicher Geheimdienste zurückgreifen könnten.
Stärke der russischen Armee wurde überschätzt
Angesichts des bisherigen Kriegsverlaufes kommt Pleyer zu der Einschätzung, dass der Erfolg der russischen Militärreform ab 2008 und die Stärke des russischen Militärs insgesamt im Westen erheblich überschätzt worden seien. Dabei dürfe aber nicht übersehen werden: „Trotz aller Probleme gelingen ihnen im Süden und Osten Raumgewinne, sie haben dort die Initiative.“
Ex-General Jürgen Schnell sieht die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen Sieges bei deutlich unter 50 Prozent. „Die Russen werden in den nächsten Tagen noch stärker als bisher direkten Feindkontakt vermeiden und stattdessen mit Artillerie- und Luftschlägen ukrainische Stützpunkte und Nachschublinien angreifen.“
Ein für die Ukraine optimistischeres Szenario hält Pleyer für möglich: Die russische Armee dürfte bereits Probleme haben, Verluste vor allem an Soldaten zu kompensieren. „Es gibt kaum Truppen mit Kampferfahrung, auf die der Kreml noch zurückgreifen könnte. Stattdessen muss er die Reihen mit oft nur dürftig ausgebildeten Reservisten auffüllen.“ Diese sähen sich in der Ukraine mit einer kampferprobten Armee mit offenbar intakter Moral und einer feindlich gesinnten Bevölkerung konfrontiert.