Sozialethiker im InterviewDürfen Christen überhaupt militärische Gewalt anwenden?
- Die Waffenhilfe für die Ukraine ist unter Christen umstritten.
- Ist sie mit der Friedensbotschaft der Kirchen vereinbart?
- Dürfen Christen überhaupt militärische Gewalt anwenden oder unterstützen?
Die katholischen deutschen Bischöfe billigen Waffenlieferungen an die Ukraine, auch in der evangelischen Kirche gibt es dafür Verständnis. Was bedeutet die Friedensbotschaft der Bibel noch im Ukraine-Krieg? Raimund Neuß fragte den in Köln lehrenden Sozialethiker Elmar Nass.
Biblische Friedensbotschaften wie die andere Wange hinhalten oder Schwerter, die zu Pflugscharen werden, prägen unsere Gesellschaft weit über die Gruppe kirchlich gebundener Menschen hinaus. Jetzt erleben wir mitten in Europa einen Akt brutaler Gewalt. Ist die religiöse Botschaft durch die Realität widerlegt?
In der Tat zeigt sich, dass jüdisch-christliche Vorstellungen hier tief in der Gesellschaft verankert sind – das ist etwas Gutes. Aber es gibt nicht die eine Interpretation dieser Botschaft. Eine Position ist der Pazifismus, vor dem ich großen Respekt habe. Er beruft sich auf das Vorbild von Jesus Christus und sagt: Keine Gewalt, auch nicht, wenn wir angegriffen werden. Es kann aber auch aus christlicher Sicht gute Gründe geben, sich im Notfall gegen Gewalt auch mit gewaltsamen Mitteln wehren zu dürfen. Dieser Position würde ich mich anschließen. Wenn man sich näher mit einem Wort wie „Wenn Dich auf die linke Wange schlägt, dann halte ihm auch die rechte hin hin“ beschäftigt, dann sieht man dahinter das Ziel Jesu: Entfeindung. Wenn ich dem anderen auch die rechte Wange hinhalte, dann erwarte ich, dass er mit dem Schlagen aufhört, dass er wieder friedlich wird.
Zur Person
Prof. Dr. Dr. Elmar Nass (55) ist katholischer Theologe und Sozialwissenschaftler. Von 2013 bis 2020 lehrte er Wirtschafts- und Sozialethik an der privaten Wilhelm Lüthe Hochschule in Fürth, seit 2021 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik und gesellschaftlichen Dialog an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie. Dort ist er auch Prorektor. Foto: KHKT (rn)
Also Deeskalation?
Ja. Aber die funktioniert natürlich nur, wenn der andere mich nicht umbringt. Ist so eine Eskalationsstufe erreicht, dann funktioniert die Idee der Entfeindung nicht mehr. Deshalb können die radikalen Forderungen der Bergpredigt in so einer Situation nicht der letzte Maßstab von Friedenspolitik sein.
In welchem Ausmaß darf man sich denn wehren?
Es gibt in der christlichen Tradition die Lehre vom gerechten Krieg, der auch völkerrechtlich legitimen Gewaltanwendung als letztem Mittel im Verteidigungsfall. Das trifft für die Ukraine sicher zu. Trotzdem möchte ich diesen Begriff nicht mehr verwenden, denn der Begriff vom gerechten Krieg könnte zu dem Missverständnis führen, dass Kriege auch etwas Gutes haben. Militärische Gewalt ist nie etwas Gutes. Wenn ein ukrainischer Soldat einen russischen Soldaten tötet, ist das nichts Gutes, das irgendwie gerecht wäre. Aber es ist ein gerechtfertigter Krieg. Ein Übel, das man in Kauf nimmt, um noch größere Übel abzuwenden. Denn was würde passieren, wenn die Ukraine sich nicht verteidigt? Einem ganzen Volk würde die Freiheit genommen, andere Länder wie China könnten
Die Deutsche Bischofskonferenz hat sich für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen, EKD-Präses Annette Kurschus hat Verständnis für solche Lieferungen. In beiden Kirchen gibt es auch Gegenstimmen. Wie sehen Sie das?
Das muss man im Kontext der gerechtfertigten Verteidigung sehen. Deutschland hat eine historische Verantwortung, das ist klar, aber wir leben im Jahr 2022. In anderen Weltgegenden kämpfen deutsche Soldaten gegen Terroristen. Es bleibt dabei, dass jeder Waffeneinsatz ein Übel ist und nur als ultima ratio gerechtfertigt ist. Aber wenn ich es mal runterbreche: Wenn ein Freund angegriffen wird, und ich schaue nur tatenlos zu, dann ist das auch keine Freundschaft. Die Lieferung von Waffen würde ich als Akt der Freundschaftshilfe für das ukrainische Volk sehen mit dem Ziel, größeres Übel zu verhindern und zu einem Ende des Kriegs zu kommen.
Der Freund, von dem Sie sprechen, bittet eindringlich um mehr: um die Einrichtung einer Flugverbotszone zum Schutz von Zivilisten. Müssten wir nicht auch so helfen?
Das ist ein schweres Dilemma. Was wir auch immer tun, es ist etwas Falsches daran. Aber in der Abwägung ist es wohl richtig, diesem Wunsch nicht nachzukommen. Bei einer Flugverbotszone könnte es dazu kommen, dass die Nato russische Flugzeuge abschießt und damit selbst in den Konflikt hineingezogen wird. Das könnte zu einem Flächenbrand in Europa und darüber hinaus führen – und da würde ich sagen: Hilfe zur Selbstverteidigung ja, aber wir müssen alles vermeiden, was in einen Dritten Weltkrieg hinein führen könnte.
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Wir in den Nato-Staaten können uns unter dem westlichen Atomschirm sicher fühlen – aber das heißt ja konkret, wir drohen einem Gegner äußerstenfalls mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Ist dieses Mittel überhaupt zu rechtfertigen?
Auch da gibt es unterschiedliche Auffassungen, wir haben das bei der Nachrüstungsdiskussion der 1980er Jahre gesehen: Hinter der Friedensbewegung standen ja auch sehr gute christliche Motive. Ja, solche Waffen sind in sich etwas Schlechtes. Abschreckung hat mit Schrecken zu tun. Dennoch würde ich abwägen: Kann es einen Grund geben, diesen Schrecken einzusetzen? Pazifisten sagen: Nein. Ich würde sagen: Es kann vertretbar sein, denn es gibt tyrannische Mächte, die sich ohne eine solche Abschreckung eingeladen fühlen könnten, schwächere Länder zu überfallen oder unter Druck zu setzen. Wie wir jetzt ja sehen. Diese Waffen sind nicht dazu da, eingesetzt zu werden, im Gegenteil. Im Christentum gibt es keine Lehre der Abschreckung. Allerdings gibt es in der Bibel einige sogar sehr drastische Stellen, in denen es darum geht, sich gegen teuflische, dämonische Mächte zur Wehr zu setzen. Insofern kann man sich auf Christus berufen, wenn man Abschreckung und militärische Gewalt im Notfall einsetzt.