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Funktioniert wie „extremistische Sekte“Warum die Russen Putin nicht einfach stürzen

Lesezeit 5 Minuten
Putin blickt starr nach vorne

Der russische Präsident Wladimir Putin

Wie gelingt es Russlands Präsident, trotz Schreckensbildern und knallharten Sanktionen gegen sein Land das eigene Volk zu einen? Medienforscher Bernhard Pörksen erklärt im Gespräch mit Tobias Schmidt Putins Kommunikation – und auch, warum es trotzdem Hoffnung gibt.

Professor Pörksen, auch in Russland gibt es Smartphones. Warum folgt die Bevölkerungsmehrheit trotzdem Präsident Wladimir Putins Narrativ, mit der „Militäroperation“ werde die Ukraine „entnazifiziert“ und der souveräne Staat gehöre Russland?

Es ist ein Ursachenbündel, das hier wirkt – die lange andauernde Propaganda, die aktuelle, für kritische Journalisten und Bürger außerordentlich gefährliche Zensur- und Mediengesetzgebung, der einigende Ausnahmezustand des Krieges in Kombination mit dem Versuch, das Land abzuschotten, die Informationskontrolle total zu machen, soziale Netzwerke zu drosseln. All dies wirkt nun zusammen. Die BBC hat kürzlich berichtet, dass manche russische Mutter selbst der eigenen, in den Ukraine lebenden Tochter nicht glaubt, wenn diese anruft und vom Schrecken des Krieges und den zivilen Opfern berichtet.

Zur Person

Bernhard Pörksen gilt als einer der einflussreichsten und meinungsfreudigsten Medienwissenschaftler des Landes. Der 1969 geborene Professor lehrt an der Uni Tübingen. Pörksen äußert sich zu Fragen seines Fachs in vielen Medien, etwa zu Verschwörungstheorien oder zur Verantwortung von Internetplattformen. (EB)

Trotzdem gibt es die Kriegsrealität. Warum stürzten die Russen ihren Präsidenten nicht, wie funktioniert Putins Kommunikation?

Das Muster, das hier am Besten als Analogie taugt, ist die extremistische Sekte, der totalitäre Kult. Wir wissen aus der Geschichte sektiererischer Bewegungen: Vor dem Moment der Eskalation geht man in das eigene, abgeschottete Tal, wechselt auf die Insel, in den Dschungel. Das ist die Strategie der informationellen Schließung, zentriert um einen mächtigen Anführer, der die kritische Kommunikation der Zweifelnden und Fragenden durch massive Propagandaanstrengungen, die Bedrohung und Verfolgung Andersdenkender und die systematische Entwertung und Demontage „feindlicher“ Auffassungen unterbindet und unterhöhlt. Das Ziel ist die Auslöschung von Individualität, die Formung eines Kollektivs, das gehorcht, anbetet und glaubt. Genau diesen Wechsel in Richtung einer sektiererisch-totalitären Kommunikation kann man aktuell in Russland beobachten.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj macht das Gegenteil. Sie sprechen von einem „Konnektiv“, das er erschaffen habe. Was meinen Sie damit?

Vorweg: Beide Seiten befehligen ihr Kollektiv, nämlich die Armee. Hier geht es um militärische Macht. Hier lässt Putin das ukrainische Volk brutal zusammenschießen. Und hier ist Russland überlegen. Aber es gibt – neben der schrecklichen, ersten Wirklichkeit des Krieges – eine zweite Realität. Und die ist kommunikativ erzeugt. Hier, in dieser zweiten Realität, gibt es einerseits die Propagandaarmee von Putin, die Trolle, all die Desinformationsanstrengungen im Netz. Dieser Propagandaarmee steht eine andere publizistische Großmacht gegenüber, angeführt von dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj; er dirigiert hier mit seinen Videos und Botschaften über Zeit- und Raumgrenzen hinweg einen Schwarm, ein Konnektiv, das durch das Teilen von Informationen entsteht. Es ist eine Organisation ohne Organisation – der glatte Gegensatz zu dem, was Putin aufbietet. Hier, im Netz gilt also: Diktator gegen Schwarm.

Was heißt das konkret?

Da ist der junge Mann aus Florida, der einen Bot programmiert, um die Luxus-Jets russischer Oligarchen zu verfolgen. Da sind die Militärexperten, die auf Twitter Tipps geben, wie man Straßenblockaden anlegt, um Kiew zu schützen. Da sind diejenigen, die bei den Restaurantempfehlungen von Google in Moskau und in anderen russischen Städten – eine Idee der Hackergruppe Anonymous – Kriegsbilder und Kriegsberichte posten, um die russische Propaganda zu unterlaufen. Und da sind diejenigen, die Ermutigungsvideos und Bilder der ukrainischen Entschlossenheit posten. Es sind andere Spielregeln des Informationskrieges, die für Konnektive gelten: Akzeptanz von Individualität, Verknüpfung der unterschiedlichsten Initiativen, Abschied von der Idee statisch-hierarchischer Kontrolle.

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Kann das Konnektiv Putin gefährlich werden?

Da ist es bereits. In der zweiten Wirklichkeit der Kommunikation hat Putin diesen Krieg verloren und eine Besinnung auf die universalen Werte der Aufklärung und der Menschenrechte im Westen ausgelöst. Das Blutbild des gescheiterten, verlogenen, unberechenbaren Diktators wird an ihm kleben bleiben.

Das ist ihm offenbar egal, er lässt die Waffen sprechen...

Eben darin besteht der ungeheure Schmerz dieser Tage. Das kommunikative Geschick des ukrainischen Präsidenten hat die Sanktionen und die Einigung Europas zwar massiv beschleunigt, aber sie rettet die Ukrainer nicht vor den Bomben Putins. Letztlich siegt die militärische über die mediale Macht. Niemand sollte deshalb – wie in der Digital-Euphorie längst vergangener Jahrzehnte – über die demokratisierende Kraft digitaler Technologie und die berauschende Intelligenz der Schwärme jubeln. Aber man muss auch sagen: Es ist ein Geschenk, das es jetzt soziale Netzwerke gibt. Auch weil sich Google, Facebook, YouTube und andere in seltener Einmütigkeit positionieren.

Wohin führt uns das, wenn der Glaube an die Macht der Worte, der Argumente, der Vernunft so stark erschüttert wird?

Das scheint mir offen. Gefährlich wäre eine mentale Militarisierung. Gefährlich wäre aber auch – man denke nur an den moralisch verwahrlosten Putin-Kitsch der extremen Linken und der Rechten –, die aktuelle Bedrohung der offenen Gesellschaft zu übersehen. Also: Wehrhafter zu werden, auch in der Bekämpfung von Desinformation, aber den Aufklärungsmut und den Verständigungswillen am Leben zu erhalten – auf diesen Balanceakt kommt es an.