Ziehen wir im Westen, vor allem in Deutschland, eigentlich die angemessenen Konsequenzen aus dem russischen Angriff auf die Ukraine? Die Londoner Sicherheitsexpertin Dr. Ulrike Franke über Rüstungsausgaben, die „German Angst“ und die Möglichkeit eines viel größeren Konflikts.
Sicherheitsexpertin Dr. Ulrike Franke„Autokraten in aller Welt blicken genau hin“
Können Sie das Wort Zeitenwende eigentlich noch hören?
Ich kann das Wort noch hören, denn die Zeitenwende passiert ja auch noch. Das Wort ist nur so schwer ins Englische oder Französische zu übersetzen! Aber das eigentliche Problem ist ja ein Missverständnis: Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Zeitenwende ja lediglich festgestellt, nicht ausgerufen.
Aber auf die Feststellung müssten doch Konsequenzen folgen.
Es wurde ja auch zunächst schnell reagiert, die Umsetzung ist eine andere Frage. Deutschland hat seine Abhängigkeit von russischer Energie schnell reduziert, aber beim Umgang mit dem Bundeswehr-Sondervermögen von 100 Milliarden Euro lässt man sich viel zu viel Zeit.
… und selbst die Außenministerin hat Bedenken, wenn der Verteidigungsminister mehr Geld für seine Truppe will.
Ich glaube, grundsätzlich ist man sich auch im Regierungslager einig, dass die Bundeswehr mehr Geld braucht. Unterscheiden würde ich das von der Debatte über das Ziel der Nato-Staaten, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. Müssen es zwei Prozent sein? Ich glaube, auch 1,9 Prozent würden uns unsere Partner nicht übelnehmen. Hier führen wir Scheindebatten. Aber ich hoffe, dass die ganze deutsche Regierung hinter der Einsicht steht, dass die Bundeswehr zu lange vernachlässigt wurde und langfristig unterstützt werden muss, auch über die 100 Milliarden hinaus.
Nur eine Art Betriebsunfall?
Aber ist in den westlichen Gesellschaften, nicht nur in der deutschen, überhaupt das Bewusstsein da, was sich da grundsätzlich verändert hat? Oder wird der russische Überfall auf die Ukraine eher als Betriebsunfall wahrgenommen?
Es gibt eine speziell deutsche Debatte, die anders verläuft als in anderen europäischen Ländern. Auch in Frankreich, Spanien oder selbst in Großbritannien wird man sich bewusst, dass die eigentlichen militärischen Fähigkeiten nicht so gut sind, wie man bisher dachte. Und dass sich die internationale Situation verändert hat. Ich war auf der Münchner Sicherheitskonferenz, und da haben wir gesehen, dass im sogenannten globalen Süden die Verurteilung Russland bei weitem nicht so einhellig ist, wie wir das gerne hätten. Wir müssen viel deutlicher machen, dass dieser Einmarsch alle angeht, dass das kein Regionalkonflikt ist, sondern eine fundamentale Verletzung internationalen Rechts.
In Deutschland liegen die Dinge etwas anders. Wir Deutschen haben uns Jahrzehnte lang eingeredet, dass militärische Macht eigentlich nicht so wichtig ist. Wir waren da sehr auf Distanz, haben das anderen überlassen und müssen da grundsätzlich umdenken. Und es gibt ein spezielles deutsches Verhältnis zu Russland, es gab – wenn auch nicht gleichermaßen in allen Parteien – viel Hoffnung darauf, dass man die Dinge in Russland zum Guten hin verändern kann. Da beginnt ein sehr schmerzhafter Lernprozess. Russland unter Wladimir Putin kann kein Partner sein, da ist Wandel durch Handel aussichtslos.
Die Angst vor dem Atomkrieg
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich warnt vor einem neuen kalten Krieg mit Russland …
Immer noch hoffen einige darauf, dass sich die Dinge wieder normalisieren werden, und da kann ich nur sagen: So wird es nicht kommen. Dieser Konflikt wird uns Jahre, ja Jahrzehnte lang beschäftigen. Ein Normalzustand mit einem Partner Russland kehrt nicht so schnell zurück.
Gibt es auch eine spezifisch deutsche Angst vor der Militärmacht Russland?
Man spricht im englischen Sprachraum vor der „German Angst“, das ist ein feststehender Begriff. Die Deutschen sind ja auch Versicherungsweltmeister. Besonders ausgeprägt ist in Deutschland die Angst vor einer nuklearen Eskalation, und das beeinflusst auch unsere Sicht auf Russland.
Nun könnte man einwenden, die Deutschen haben aus guten Gründen Angst, das wird andernorts halt heruntergespielt.
Das würde ich so nicht sehen. Vom ersten Kriegstag hat die Nato die Gefahr einer nuklearen Eskalation sehr stark berücksichtigt, das prägte alle Entscheidungen. Deshalb hat man von Anfang an klargestellt, dass man keinen Krieg gegen Russland führt. Sicher kann man natürlich nichts sagen, aber ich glaube nicht, dass die Deutschen realistischer sind als andere. Wenn man sich Indikatoren ansieht, etwas, was Putin wann gesagt hat, wie die Rhetorik heute aussieht, wie das Militär und speziell seine nuklearen Fähigkeiten aufgestellt sind, dann ist diese Gefahr derzeit nicht hoch, aber sie ist nie gleich Null. Das wird aber auch in den anderen Ländern so gesehen. In Deutschland wird das Thema aber stärker betont als anderswo, und vielleicht mehr als es angemessen ist.
Aber Wladimir Putin hat in seiner Rede zur Lage der Nation doch ganz klar mit der Idee einer angeblich existenziellen Bedrohung Russlands gespielt, die in der russischen Doktrin als Rechtfertigung für einen Atomschlag gilt, und Vorbereitungen für Atomtests angeordnet. Blufft er?
Wladimir Putin nutzt seine Atomwaffen seit Beginn des Krieges – als Drohung und als Schutzschild für sein Regime, unter dem er seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg durchführen kann. In dieser Funktion sind die russischen Atomwaffen für ihn sehr wertvoll. Sie allerdings tatsächlich einzusetzen, hätte sehr wahrscheinlich eine Verurteilung von quasi der ganzen Welt zur Folge. Ich sprach davon, dass nicht alle Staaten gleichermaßen Russland verurteilen – sollte Russland eine Atombombe zünden, sähe das ganz anders aus, das wurde auch von Ländern wie China und Indien so signalisiert.
Das bedeutet nicht, dass wir uns 100-prozentig sicher sein können, dass Putin niemals Atomwaffen einsetzen würde. Aber solange sie ihm politisch mehr helfen als militärisch, und solange ihre Nutzung politisch klar negative Konsequenzen hätte, ist das nicht meine größte Sorge. Wachsam bleiben müssen wir trotzdem.
Testfall für die Weltmacht China
In München war Russland nicht vertreten, dafür kündigte China eine Friedensinitiative an. Was halten Sie davon?
So einen Auftritt hatte ich auch nicht erwartet, so eine scharfe Kritik an den USA, so scharfe Töne zu Taiwan. Das war bei der letzten großen Sicherheitskonferenz vor drei Jahren noch nicht so. Die Friedensinitiative ist sehr interessant, denn China steht eigentlich klar an der Seite Russlands. Es gibt ja sogar den Verdacht, dass Peking Moskau mit Waffenlieferungen helfen könnte.
China ist also genauso wenig ein neutraler Vermittler, wie wir es sein könnten, aber wenn irgendwann – ich fürchte, das wird nicht so bald sein – die Zeit für Friedensverhandlungen kommt, dann kann es positiv sein, wenn China auf Russland Einfluss ausübt. Das ist ein Testfall: Wird die Weltmacht China in der Lage sein, auf internationaler Bühne wirklich konstruktiv aufzutreten?
Wenn Historiker in 30 Jahren auf den Ukraine-Krieg blicken, wie werden sie ihn einordnen? Sie haben gesagt, kein Regionalkonflikt. Aber vielleicht der Auftakt zu einem viel größeren Konflikt, in dem China der große Widersacher des Westens ist?
Das ist in der Tat die große Frage. Ich neige durchaus der Sicht zu, dass Russland sozusagen ein Unwetter ist, China aber der Klimawandel. Dass also der Aufstieg Chinas und der zunehmende Konflikt zwischen den USA und China dominieren wird. Aber gerade vor diesem Hintergrund bedeutet der Ukraine-Krieg eine Weichenstellung. Deshalb sehen Autokraten in aller Welt auch genau hin.
Würde Russland diesen Krieg gewinnen, dann würde dies das Ansehen des Westens weltweit schwächen. Wenn Russland verliert, dann bedeutet das, das internationale Recht wird durchgesetzt. Dann wird der nächste Autokrat es sich zweimal überlegen, ob er andere Staaten überfällt. Deshalb ist dieser Krieg so eine zentrale Weichenstellung für dieses und für das nächste Jahrzehnt, in dem der Konflikt zwischen China und den USA dominieren wird.
Der Westen hat an Macht verloren
Wieso üben Russland und China eigentlich auf Regierungen im globalen Süden so eine Anziehungskraft aus, dass sich selbst Südafrika auf ein gemeinsames Manöver einlässt?
Das liegt daran, dass der Westen an Macht verloren hat. Das hat mit wirtschaftlichen und demografischen Entwicklungen zu tun. Wir werden kleiner, Afrika wird demografisch größer, China wirtschaftlich. Nun sollte man nicht alle Länder außerhalb der westlichen Industrieländer in einen Topf werfen, deshalb ist der Begriff globaler Süden auch problematisch. Aber viele Länder klagen, dass der Westen arrogant auftritt. Sie glauben nicht, dass der Ukraine-Konflikt für sie relevant ist, denn sie haben doch andere Probleme wie den Klimawandel. Da müssen wir ihnen mehr auf Augenhöhe begegnen.
Und ja, die Regeln, die wir jetzt hochhalten, haben wir bis zu einem gewissen Grad auch gebrochen. Ich denke an den Irak-Krieg, auch an US-Kriegsverbrechen im Irak. Das ist keinesfalls mit dem Eroberungskrieg und mit den systematischen Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine gleichzusetzen, nicht nur, weil es um ein komplett anderes Ausmaß geht, und bei Russland klar Intention dahintersteht, sondern auch, weil solche Vorfälle im Westen intensiv aufgearbeitet und werden.
Aber die perfekt weiße Weste haben wir im Westen auch nicht. Das wird uns jetzt vorgehalten. Und schließlich gibt es Länder, die einfach vom Krieg profitieren wollen, und ob ihrer wirtschaftlichen Situation vielleicht sogar müssen, etwa von billiger Energie aus Russland. Diesen Ländern müssten wir mehr anbieten, als Rhetorik.
US-Präsident Joe Biden hat in Warschau eine Trennungslinie zwischen Freiheit und Autokratie gezogen. Was, wenn sich viele Regierungen nicht eindeutig für die Seite der Freiheit entscheiden wollen, wie er sie beschreibt? Bauen wir dann eine Wagenburg der westlichen Rechtsstaaten?
Ziel des Westens ist die Aufrechterhaltung der liberalen Weltordnung, also der Geltung des internationalen Rechts. Und dieses Ideal würde ich nicht aufgeben. Denn von einer solchen Ordnung profitieren alle, nicht nur die westlichen Staaten. Eine Welt, in der nicht einfach das Recht des Stärkeren gilt, in der Konflikte in den internationalen Institutionen geregelt werden, das ist im Interesse aller und gerade der etwas schwächeren Staaten.
Nur müssen wir dazu unser eigenes Haus in Ordnung halten, unsere eigenen Partnerschaften in EU und Nato stärken und weitere Staaten als Partner gewinnen. Darunter vielleicht auch Staaten, die nicht nach unseren demokratischen Standards regiert werden, aber doch ein Interesse an der internationalen Rechtsordnung haben. Die Macht des Westens ist geschrumpft, wir müssen anderen Ländern auf Augenhöhe begegnen.
Zur Person: Dr. Ulrike Franke
Dr. Ulrike Franke arbeitet als Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR), einer unbhängigen Denkfabrik in London. Mit drei anderen Experten betreibt sie den Podcast „Sicherheitshalber“. (rn)