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Russland droht dem Westen„Schon eine Möglichkeit, eine andere Front aufzumachen“

Lesezeit 5 Minuten
Raketenwerfer Mars II, hier im Dienst der Bundeswehr

Raketenwerfer Mars II, hier im Dienst der Bundeswehr: Mit solchen westlichen Waffen darf die Ukraine jetzt auch von russischem Boden ausgehende Angriffe abwehren.

Zwischen Diplomatie und Aggression: Putin warnt vor einer „endgültigen“ Zerstörung der Beziehung zu Deutschland, während Experte Jäger seine Aussagen als ein Spiel aus „alternativen Wahrheiten“ und Drohungen einordnet.

Welch wüste Drohung des russischen Präsidenten: Die westlichen Staaten, die die Ukraine mit Waffen beliefern, könnten aus Moskau eine „asymmetrische Antwort“ erhalten, sagte der Kremlchef bei einem Treffen mit ausländischen Journalisten in St. Petersburg. „Wir denken darüber nach, dass falls jemand es für möglich hält, Waffen in die Kampfzone zu liefern, um Angriffe auf unser Gebiet durchzuführen, warum wir dann nicht das Recht haben sollten, solche Waffen in Weltregionen aufzustellen, wo Angriffe auf sensible Objekte derjenigen Länder ausgeführt werden, die das in Bezug auf Russland tun?“, sagte er.

Will Putin Attentate im Westen ankündigen?

Putins Formulierung wirft Rätsel auf. „Bei Maßnahmen wie Desinformation oder der Förderung prorussischer Parteien sind die Russen ja schon am Limit, da haben sie alles gemacht, was überhaupt möglich ist“, sagt der Kölner Politologe Thomas Jäger der Rundschau. Was könnten sie also noch tun? Jäger: „Da bleiben beispielsweise Sabotage und die Unterstützung terroristischer Gruppen.“ Er verweist auf den russischen Außenminister Sergej Lawrow, der gerade in Burkina Faso ist. „Es wäre eine Möglichkeit, in der Region entsprechende Gruppierungen so auszustatten, dass die in die Lage versetzt würden, Anschläge auszuführen. Die Huthi zeigen ja gerade, wie das geht.“

Überraschend käme so etwas nicht. Ein Sprengstoffdepot unbekannter Herkunft nahe einem Nato-Tanklager im rheinland-pfälzischen Bellheim, aufgefunden Ende Mai. Ein rätselhafter Großbrand in einem Warschauer Einkaufszentrum. Zuletzt, am Montag, in Paris die Explosion eines selbstgebauten Sprengsatzes, bei der der Bombenbauer – nach Vermutung der Behörden ein russischer Agent – schwer verletzt wurde. Nichts davon ist Russland bisher sicher zuzuschreiben, aber Warnsignale sind da.

Warum droht und entwarnt er zugleich?

Auffällig: Während Putin westliche Staaten bedroht und Deutschland vor einer „endgültigen“ Zerstörung der Beziehung warnt, bezeichnete er Befürchtungen, Russland könne Nato-Staaten angreifen, als „Bullshit“. Wie passt das zusammen? Das sei klassische russische Diplomatie, sagt Jäger: Lügen oder freundlicher formuliert „alternative Wahrheiten“. Versichern, dass man keine bösen Absichten hege – und Drohungen einstreuen.

Was hat das mit der Lage im Krieg zu tun?

„Die Drohungen sind eine Reaktion auf das, was auf dem Schlachtfeld geschieht“, sagt Jäger. Zwei Jahre lang ist Charkiw von russischem Territorium aus angegriffen worden, zwei Jahre lang durfte die Ukraine dem nicht mit westlichen Waffen entgegentreten. Zwei Jahre lang haben Putins Drohungen also nach Jägers Analyse gewirkt – jetzt nicht mehr. Daher sei es für Russland schon eine Möglichkeit, „eine andere Front aufzumachen, in der andere Akteure befähigt werden, Schaden im Westen anzurichten“.

Was haben die westlichen Entscheidungen bewirkt?

Seit der westlichen Freigabe von Gegenschlägen haben die russischen Angriffe auf Charkiw deutlich nachgelassen. „Die Russen können sich ja in der Grenznähe nicht mehr so frei bewegen, und das hat unmittelbare Folgen“, analysiert der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy auf x. Für seine Angriffe hat Russland oft Luftabwehrraketen eingesetzt, und die Ukraine hat ein solches System in Belgorod ausgeschaltet – ebenso wie übrigens ein weiteres bei Donezk.

Die russische Bodenoffensive bei Charkiw hat zuletzt kaum Fortschritte erzielt, in der Stadt Wowtschansk drängten die Ukrainer die Russen sogar etwas zurück. Dafür könnte ein neuer Vorstoß auf den Bahnknoten Kupjansk drohen, zudem laufen russische Angriffe im Donbass. Andererseits hat die Ukraine die Krim, so der „Economist“, zur „Todesfalle“ für russische Soldaten verwandelt und die Schwarzmeerflotte nach Südrussland verdrängt. Die Schifffahrt ist wieder so sicher, dass die Reederei Hapag-Lloyd ihren Ukraine-Verkehr wieder aufnahm. Auch mit modernsten russischen Luftabwehrsystemen kaum abzufangen sind offenbar die teilweise mehr als drei Jahrzehnte alten amerikanischen ATACMS-Raketen.

Angriffe auf russische Raffinerien halten an, Moskau veröffentlicht ihre Produktionszahlen lieber nicht mehr. Gazprom schreibt rote Zahlen, Steuern wurden massiv erhöht. Und vor allem: Die russischen Depots mit Panzern und Geschützen leeren sich, wie Satellitenaufnahmen zeigen. Die Neuproduktion hält mit den Verlusten nicht Schritt. Von 2025 an schließe sich für Moskau das „Fenster der Möglichkeit“, im Krieg voranzukommen, hatten die US-Analysten Michael Kofman und Rob Lee im Mai in der „New York Times“ geschrieben. Und ihre Kollegin Darah Massicot, die die aktuelle Lage gleichwohl als für die Ukraine sehr ernst beschreibt, sieht auf russischer Seite ein „Verbrennen“ strategischer Reserven. Anlass für Putin also, es wieder einmal mit Einschüchterung der Partner Kiews zu versuchen.

Was ist über die Verluste im Krieg bekannt?

Verschlüsselt hat sich Kremlchef Putin zu gefallenen und verwundeten Soldaten geäußert. Die Ukraine habe 1348 Russen in Gefangenschaft, Russland dagegen 6465 ukrainische Gefangene, behauptete er. Nachprüfbar ist das nicht: In einem ähnlichen Verhältnis stehe die Zahl der Personenverluste. Auf ukrainischer Seite gebe es monatlich 50 000, je zu 50 Prozent Tote und Verletzte.

Putins Angaben über die Lage beim ukrainischen Militär sind mit Sicherheit maßlos übertrieben, aber sie sind in Verbindung mit seiner Anmerkung zum angeblichen Verhältnis der russischen und ukrainischen Verluste interessant. Putin hat damit für sein Land immerhin ein Fünftel der von ihm behaupteten ukrainischen Verluste eingeräumt. Das wären das in bald 30 Monaten Krieg 150.000 russische Gefallene. Was wiederum zu der von der britischen Regerung grundsätzlich geteilten ukrainischen Einschätzung passt, Russland habe in seinem Angriffskrieg rund 500.000 Mann verloren: Üblicherweise geht man davon aus, dass auf einen Toten zwei bis drei Verwundete kommen, also nicht von dem Verhältnis 50:50, das Putin nannte.

Zur ukrainischen Seite ist daraus nichts ableitbar, Putins diesbezügliche Zahl ist nicht glaubwürdig. Bei schweren Waffen und Fahrzeugen jedenfalls betragen die nachweisbaren ukrainischen Verluste nur ein Drittel der russischen. Was dagegen Russland angeht, hat Putin zwar nur indirekt eine Größenordnung genannt, aber zugegeben, dass es viele Opfer gibt. „Millionen Menschen in Russland haben die Erfahrung gemacht, dass Verwandte gefallen sind oder schwer verwundet worden. Das kann Putin gar nicht abstreiten“, sagt Thomas Jäger: „Alles andere würde ihm im Land nicht mehr abgenommen. Ihn muss das auch nicht stören. Die Repression in Russland ist so groß, dass deswegen ein erfolgreicher Protest nicht zu erwarten ist.“