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Interview

Russischer Journalist über sein Land
„Putin zeigt, dass er die totale Kontrolle hat“

Lesezeit 13 Minuten
Das von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik über AP veröffentlichte Pool-Foto zeigt Wladimir Putin, Präsident von Russland, der im Anschluss an die Militärparade zum «Tag des Sieges» an einer Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten teilnimmt. Anlässlich des 77. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs feiert Russland - überschattet vom Krieg gegen die Ukraine - den Sieg über Hitler-Deutschland. Der russische Präsident Wladimir Putin am "Tag des Sieges".

Jeder Nachfolger wäre wie er – oder schlimmer: Wladimir Putin hier bei einer Ehrung für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges.

Warum ist die russische Führung so auf ihren Krieg gegen die Ukraine fixiert? Und warum gibt es in Russland kaum Proteste? Der russische Journalist Vladimir Esipov erklärt Herrschaftsmethoden und Ideologie in seinem Land - und auch, was das alles mit einem Lied vom schönsten Po der Welt zu tun hat.

Seit zweieinhalb Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine, und die Zahl der russischen Gefallenen ist um ein Vielfaches höher als die Zahl der Soldaten, die die viel größere Sowjetunion in Afghanistan verloren hat. Damals gab einen sehr wahrnehmbaren öffentlichen Protest. Warum heute nicht?

Wenn es ihn gibt, ist er so unauffällig und leise, dass man ihn nicht wahrnimmt. Die öffentliche Meinung ist unter staatlicher Kontrolle, es ist ein hermetisches System. In den ersten Tagen und Wochen gab es einzelne Versuche, auf die Straße zu gehen. In Moskau und Sankt Petersburg. Sie wurden massivst niedergeschlagen, die Menschen wurden verhaftet. Wer jetzt noch gegen den Krieg ist, ist entweder verstummt oder ins Ausland gegangen. In dieser Frage gibt es weder Meinungs- noch Versammlungsfreiheit, denn das Land ist im Krieg, da ist kein Raum für Proteste, da gelten andere Gesetze. Es gibt keine Pressefreiheit, es gibt keine Versammlungsfreiheit. Schon 2007 wurden kleine Oppositionsmärsche mit wenigen 1000 Leuten mit extremer Brutalität niedergeschlagen. Eine ganze Generation von Russen ist mit der Überzeugung aufgewachsen, dass Protest nur schadet. Man wandert ins Gefängnis, man wird verprügelt, aber man erreicht nichts.

Was im Westen als Revolution in der Ukraine gefeiert wurde, wurde in Russland als eine Ohrfeige und als Kriegserklärung wahrgenommen.

Aber auch in Umfragen des Lewada-Instituts steht Staatschef Wladimir Putin gut da. Auch wenn jemand nicht protestiert, warum unterstützt er Putin und seinen Krieg in Umfragen?

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Weil der russische Staat seit 2014, seit dem Sturz des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch in der Ukraine, konsequent eine Agenda im Inland umsetzt: Wir sind im Krieg mit dem Westen. Für den Krieg, den wir seit 2022 erleben, hat sich Russland acht Jahre lang warmgelaufen. Was im Westen als Revolution in der Ukraine gefeiert wurde, wurde in Russland als eine Ohrfeige und als Kriegserklärung wahrgenommen. Und der größte Teil der Bevölkerung teilt die Sicht der Dinge, dass der Westen, die Nato, die USA, die EU, wer auch immer Russland angreifen und vielleicht sogar zerstören wollen. Das ist so tief in die Köpfe hineingehämmert worden, dass jetzt die wenigsten dagegen protestieren.

Hat Putin die Ukraine also letzten Endes aus innenpolitischen Gründen angegriffen?

Die russische Führung sieht eine theoretische, imaginäre Nato-Mitgliedschaft der Ukraine als existenzielle Gefahr. Das hat nichts damit zu tun, was ich davon denke, für die russische Führung ist das so.

Warum ist sie so auf die Ukraine fixiert?

Weil wir uns so nah waren, damals. So ähnlich. Millionenfach verwandt, befreundet, verheiratet. Wir empfanden keine Teilung, wir waren alle völlig normale Menschen. Als die Sowjetunion zerfiel und die Ukraine unabhängig wurde, waren die Unterschiede – sprachlich, kulturell, gesellschaftlich – zwischen, sagen wir, Lemberg im Westen und Donezk im Osten der Ukraine doch größer, als, sagen wir, zwischen Kaliningrad und Wladiwostok. Der Westen hat traditionell nach Europa geschaut, der Osten war nicht nur sprachlich, sondern auch wirtschaftlich an Russland angebunden.

Der russische Journalist Vladimir Esipov

Acht Jahre lang hat sich Russland für den Krieg gegen die Ukraine warmgelaufen, sagt der russische Journalist Vladimir Esipov

Aber auch andere Staaten sind kulturell divers. Und sogar der aktuelle ukrainische Präsident ist russischer Muttersprachler. Wo ist das Problem?

Für die ukrainische Staatsführung war es ein Drahtseilakt, die Balance zwischen dem Osten und dem Westen zu halten. Das ging bis 2004, als es bei der Präsidentenwahl dann hieß: entweder oder. Entweder der prowestliche Kandidat oder der prorussische. Beides ging nicht, die Zeit der Kompromisse war vorbei. Offiziell hat der prorussische Kandidat gewonnen, doch die Massenproteste gegen die Wahlfälschungen führten dazu, dass die Wahl wiederholt wurde. Und der prowestliche Kandidat gewann. In Moskau kam das extrem schlecht an. Sechs Jahre später kam der damalige prorussische Kandidat doch ins Amt des Präsidenten, musste aber im Februar 2014 aus dem Land flüchten, gestürzt durch Massenproteste. Kurzum: In zehn Jahren hatte die Ukraine zwei Revolutionen erlebt, beide angeheizt von Protesten gegen die Person Wiktor Janukowytsch und, unterschwellig, gegen Russland.

Dazu kommt, dass in der amerikanischen Politik die Ukraine eine Schlüsselrolle in Fragen der Schwächung Russlands zugewiesen wird - es ist nicht meine Erfindung, sondern eine der Kernthesen des inzwischen verstorbenen Sicherheitsberaters von Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski.

Noch einmal: Es geht nicht darum, ob ich diese Meinung teile, sondern darum, was die russischen Eliten denken. Und sie – viele von denen jedenfalls – denken, die USA wollen, dass Russland so zerfällt wie die Sowjetunion. Und die Ukraine spiele eine Schlüsselrolle dabei. Das ist jetzt aber nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass das Sterben aufhört. Je eher desto besser.

Ich wünsche mir, dass die Waffen sofort schweigen. Aber das ist komplett unrealistisch.

Sehen Sie denn eine Chance für eine Waffenruhe?

Ich wünsche mir, dass die Waffen sofort schweigen. Aber das ist komplett unrealistisch. Jeden Tag mehr Bomben, mehr Raketen, mehr Tote, da sehe ich keinen Ausweg. Als Russe bin ich der letzte, der den Ukrainern zu sagen hätte, was sie tun sollen. Ja, ich würde mir wünschen, dass die aufgeklärte europäische Öffentlichkeit und noch zurechnungsfähige Teile der russischen Öffentlichkeit ins Gespräch kämen. Aber ich weiß nicht, wie.

Stellen wir uns mal vor, Putin erlebt in der Ukraine etwas, das für ihn wie ein Erfolg aussieht. Was wären die Folgen?

Was, meinen Sie, wäre ein Erfolg für ihn?

Zum Beispiel: Der Westen reduziert die Waffenlieferungen, die Ukraine muss unter diesem Druck Gebiete aufgeben, die Nato-Mitgliedschaft ist vom Tisch, wenn sie denn jemals auf dem Tisch lag. Und die Rest-Ukraine kann es sich nicht mehr leisten, von Russland unabhängige Politik zu machen.

Russland würde das als großen Sieg erleben. Es hätte der Außenwelt gezeigt, dass Russland seine Ziele durchsetzen kann, um welchen Preis auch immer. Der Preis ist enorm, aber wir scheuen keine Kosten, wenn es um unsere Ziele geht. Wenn die Regierung uns sagt, dass unser Land das so machen muss, machen wir das auch. Übrigens: Die Freilassung eines russischen Killers aus dem deutschen Justizvollzug, wo er eigentlich lebenslang sitzen musste, und seine Rückkehr nach Russland im Tausch gegen einige politische Gefangene war ein solcher Erfolg: Russland erreicht seine Ziele, steht zu seinem Wort, egal, was es kostet. Das klingt makaber, aber es ist die Ideologie von heute: Die Menschen geben ihrem Staat alles, und der Staat holt sich sogar aus einem deutschen Knast und rollt ihm einen roten Teppich vor dem Flugzeug aus. Das kann in Deutschland kaum einer verstehen, in Russland ist es aber die Staatsideologie - es geht nicht um hedonistischen Individualismus, sondern um die patriotische Pflicht, seinem Land zu dienen. Deswegen protestiert kaum jemand gegen den Krieg.

Es gibt das Sprichwort: Die Regierung hält so lange, wie das Fernsehen den Kühlschrank besiegt. Das Fernsehen ist die Staatspropaganda, der Kühlschrank steht für die Lebensmittel.

Wie lange kann Russland das durchhalten?

Es gibt das Sprichwort: Die Regierung hält so lange, wie das Fernsehen den Kühlschrank besiegt. Das Fernsehen ist die Staatspropaganda, der Kühlschrank steht für die Lebensmittel. Und solange die Lebensmittelpreise akzeptabel sind, gewinnt die Propaganda. Wenn der Kühlschrank sich leeren würde, sähe es anders aus, aber momentan ist es dort ruhig. Ich weiß nicht, wie lange das so bleibt, aber das heutige Russland ist nicht die Sowjetunion der 1980er Jahre. Es gibt keine Anzeichen von Wirtschaftskrise. Russland verdient ja sogar am Krieg, weil der die Öl- und Gaspreise hochgetrieben hat. Und die Sanktionen wirken auch nicht so richtig, man verkauft, was man verkaufen möchte, eben auf Umwegen. Und verdient auch daran. Und auch hier gilt: Wir halten durch, weil wir zur Regierung stehen, die das Land verkörpert.

Könnte denn irgendwas anders die Herrschaft Putins gefährden, Unzufriedenheit im Geheimdienstapparat zum Beispiel?

Das ist seit zweieinhalb Jahren die 100.000-Euro-Frage, und ich sage Ihnen: Ich teile die westliche Hoffnung nicht, dass sich das politische System von innen heraus verändert. Die Entwicklung der letzten 20 wenn nicht 200 Jahre hat dazu geführt, dass jeder, der nach Putin käme, genauso wäre wie er. Oder schlimmer. Das Land funktioniert von oben nach unten. Das wird sich nicht ändern.

Aber warum hat Putin dann solche Angst bei Wahlen und lässt Boris Nadeschdin ausschließen, den einzigen Kandidaten, der Chancen auf ein achtbares Ergebnis hatte? Warum musste Alexej Nawalny, der ja niemals Chancen auf eine Mehrheit gehabt hätte, bis zu seinem Tod im Lager sitzen?

Putin hat keine Angst. Die muss er auch nicht haben. Er zeigt einfach, dass er die totale Kontrolle hat. Brüssel, Berlin, Washington können machen, was sie wollen. Er hat die Kontrolle.

Es hat niemanden gejuckt, ob Ex-Sowjetrepubliken in irgendeinem Militärbündnis sind. Erst als das Thema Ukraine aufkam, änderte sich das.

Könnte er nach dem Krieg gegen Ukraine noch einen anderen anfangen? Vielleicht auf die Idee kommen, jetzt müsse er mal die Russen im estnischen Narva befreien?

Das halte ich für extrem unwahrscheinlich. Ich habe 40 Jahre lang in Russland gelebt. Es hat niemanden gejuckt, ob Ex-Sowjetrepubliken in irgendeinem Militärbündnis sind. Erst als das Thema Ukraine aufkam, änderte sich das. Estland spielt im russischen Nationalbewusstsein keine Rolle, die Ukraine dagegen eine große. Es geht immer ums alte Russland. Um den Kiewer Rus zum Beispiel, die Russen sehen Kiew als ihre alte Hauptstadt. Keine estnische Stadt war mal russische Hauptstadt.

Um Himmels willen, aber dann können wir ja in ganz Europa die Geschichtsbücher auspacken, schauen, was angeblich historisch zusammengehört, und Kriege anfangen.

Das tun Sie aber nicht, weil Europa es geschafft hat, Frieden, Demokratie und Integration zu einem Erfolgsgemisch für den Wohlstand zu machen. Es gibt Stimmen in Russland, die behaupten, eine modernisierte Sowjetunion hätte ähnliches leisten können wie die EU: Die Republiken hatten von einer Wirtschaftsunion profitiert und wären politisch von dem Diktat Moskau befreit. Es ist eine gewagte These, und Gorbatschow ist bekanntlich mit seinen Reformen gescheitert. Aber, wie gesagt, auch für diese Debatte ist es zu spät.

Putin liest viel und ist historisch sehr bewandert. Und ja, auch ich bin damit aufgewachsen, dass Russland und die Ukraine Teile eines Landes waren. Wir haben als Kinder nie unterschieden, wer Russe und wer Ukraine war. Und jetzt driftet das innerhalb einer Generation auseinander, verbunden mit heftigen Anfeindungen. Natürlich rechtfertigt das keine Waffengewalt, auf keinen Fall. Aber die regierenden Herrschaften sehen sich als Teil einer russischen Renaissance und glauben, sie müssten jetzt handeln. Sie sehen sich als Opfer. Der böse Westen hat angeblich versucht, die Ukraine in die Nato und die EU zu zerren. Es ist tragisch, dass man es nicht durch Gespräche, durch die ganze Diplomatie geschafft hat, dies friedlich zu regeln.

Manche Leute sagen, der Westen hat Russland geradezu provoziert. Andere sagen, es fehlt gerade an Härte, man hätte zum Beispiel Nord Stream 2 nach der Okkupation der Krim nie genehmigen dürfen. War der Westen also zu diplomatisch oder nicht diplomatisch genug?

Weder noch. Bei Nord Stream hat Deutschland doch vor allem im eigenen Interesse gehandelt, das Land konnte gar nicht genug vom russischen Gas haben. Darauf basierte das ganze Wirtschaftsmodell. Am liebsten noch Nord Stream 3, 4, 5. Adidas, Lufthansa und so weiter, sie waren alle dabei, sie fanden das total geil. Die Russen haben den Deutschen Gas verkauft und mit den Erlösen wieder deutsche Waren gekauft. Ein Zungenkuss zweier Volkswirtschaften. In einer stillen Ecke hat sich dann mal jemand über Menschenrechte aufgeregt. Das hat einen Dreck interessiert. Alle wollten Geld.

Gut, dann die Gegenthese: Der Westen hat Russland provoziert.

Na klar, der Westen ist an allem schuld. Entschuldigen Sie bitte, wie kann uns der Westen überhaupt provozieren mit der ganzen Pressefreiheit und so weiter? Wir haben 70 Jahre lang hinter dem Eisernen Vorhang gelebt. Als er fiel, haben die Russen gesehen, wie zurückgeblieben sie waren. Die erste westliche Stadt, die ich gesehen habe, war Köln. 1993. Es war unfassbar. Ich war komplett reizüberflutet. Der Kaufhof, ich bin auf jeder Etage im Kreis gegangen, weil ich überfordert war. Allein schon von den Farben. So viele farbige Klamotten hatte ich noch nie im Leben gesehen. Dann hat Russland versucht, das alles einzuholen. Der Ölpreis stieg. Russland wurde mehr oder weniger reich. Etwa um 2000 hat man unter Putin angefangen, sich dem Westen anzubiedern. Man hat die G8 nach Russland geholt, Olympische Spiele, die Fußball-WM. Wir wollten sein wie der Westen, aber dem Westen hat es doch nicht gereicht. Und dann haben wir die Tür zugeknallt und gesagt, dann sind wir eben, wie wir sind. Wir machen politisch unkorrekte Witze und annektieren Halbinseln. Weil wir so drauf sind. Weil wir es einfach wollen. Das war ein wechselseitiger Prozess. Wie wenn man zuerst heftig flirtet und dann feststellt, dass die Unterschiede doch zu groß sind, dann geht man krachend auseinander. Dann werden böse Sachen gemacht. So ungefähr ist es passiert. Jetzt sind wir cool, wir saufen Wodka, wir sind alles, was man nicht sein darf. Wir zeigen im Fernsehen Dinge, die im Westen nicht möglich wären. In den 90er-Jahren hätte man noch Scheu gehabt, mit diesem enthemmten Russisch-Sein aufzutreten. Jetzt ist es salonfähig.

2008 kam die Moskauer Sängerin Glukoza mit dem Hit in die Charts: ,Tanz Russland! Heul Europa! Ich habe den schönsten Po der Welt’. Das ist die neue russische Attitüde.

Also die Diskussionsrunden mit genozidalen Fantasien, das Zeigen von Festgenommenen mit Folterspuren?

Das auch, aber auch Unpolitisches. 2008 kam die Moskauer Sängerin Glukoza mit dem Hit in die Charts: ,Tanz Russland! Heul Europa! Ich habe den schönsten Po der Welt’. Das ist die neue russische Attitüde. Wir sind, wie wir sind, wir wollen auch nicht besser werden, wir wollen uns schon gar nicht dem Westen anbiedern.

Sie sagen vorhin, selbst Kaliningrad und Wladiwostok sind sich kulturell sehr ähnlich. Aber was ist mit dem Kaukasus? Mit zentralasiatischen Teilrepubliken?

Ja, es gibt 20 Millionen Muslime in Russland. Die sind anders, religiös, kulturell, die Dörfer sehen anders aus. Aber ein Prinzip bleibt gleich: Der Staat ist wichtiger als der Mensch. Das unterscheidet die russische Gesellschaft von der westeuropäischen. Wenn die Leute im Westen das Gefühl haben, der Staat schränke sie in ihrer Freiheit ein, gehen sie auf die Straße. Zum Beispiel wegen der Corona-Einschränkungen, als plötzlich Menschen auf die Strasse gingen, um ihr Menschenrecht auf einen Friseurtermin ohne Corona-Test einzufordern.

In Russland wäre das gar nicht möglich. Wenn der Staat etwas macht, dann ist das halt so, denn der Staat weiß besser, was für uns gut ist. Im Westen fordern die Bürger etwas vom Staat, in Russland fordert der Staat etwas von seinen Bürgern. Deshalb stellt sich auch die Frage nicht, wie lange die Russen sich das alles gefallen lassen und wann sie eine Revolution machen. Die Revolution 1917 wurde übrigens von den Deutschen mitgesponsert, sie haben Lenin im verplombten Waggon nach St. Petersburg gebracht. Normalerweise funktionieren Machtwechsel anders. Es wird nicht gewählt oder geputscht, sondern der Nachfolger wird in innersten Machtzirkeln auserkoren. Erst Gorbatschow, dann Jelzin, dann Putin.

Optimisten blicken anders auf die russische Geschichte. Sie sagen, schwere äußere Krisen, etwa verlorene Kriege, haben schon die Zaren die Reformen gezwungen.

Die Zaren hatten weder Atomwaffen noch Telegram. Mit diesen zwei wunderbaren Erfindungen lassen sich die Krisen ganz anders meistern als vor zweihundert Jahren. Das ist Zuckerbrot und Peitsche 3.0: Angst und Desinformation in sozialen Medien sind eine sehr effiziente Waffe, und übrigens nicht nur im Inland.

Die russische Führung hat massiv aus der neuesten Geschichte gelernt: Eine Staatskrise entsteht nicht, wenn Regale in Geschäften leer sind, sondern wenn die Menschen beginnen, an ihrem Staat zu zweifeln. Und das gilt es jetzt für den Kreml zu vermeiden. Um jeden Preis. Deswegen ist der Fernseher wichtiger als der Kühlschrank.


Zur Person: Vladimir Esipov

Coverabbildung Vladimir Esipov Die russische Tragödie

Coverabbildung Vladimir Esipov Die russische Tragödie

Vladimir Esipov, geboren 1974 in St. Petersburg, studierte dort Journalismus und machte eine Ausbildung an der Hamburger Journalistenschule. Er war Chefredakteur der russischen „Geo“-Ausgabe, bis der deutsche Verlag 2015 wegen der neuen russischen Mediengesetzgebung das Land verlassen musste. Heute arbeitet er als Redakteur für das russische Programm der Deutschen Welle. Zuletzt erschien sein Buch „Die russische Tragöde — Wie mein Heimatland zum Feind der Freiheit wurde" (Heyne, 319 S., 18 Euro)