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Rundschau-Debatte des TagesKommt der Nato-Beitritt der Ukraine?

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Wiederholt demonstrierte Jens Stoltenberg (l.) die Nähe der Nato zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – wie hier im April in Kiew.

Wiederholt demonstrierte Jens Stoltenberg (l.) die Nähe der Nato zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – wie hier im April in Kiew.

Die Frage der Aufnahme des kriegsgebeutelten Landes steht bei jedem Treffen des westlichen Militärbündnisses im Raum. Aber nicht alle Partner sind begeistert von der Idee.

Als die Nato-Verteidigungsminister gestern in Brüssel zusammenkamen, war mit ihnen auch immer ein „Elefant im Raum“, wie es ein hochrangiger Diplomat formulierte. Er verwies mit der Metapher auf den Wunsch der Ukraine, dem Bündnis beizutreten. Und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg scheint den Elefanten auch kaum verscheuchen zu wollen. Auf dem nächsten Gipfel Mitte Juli im litauischen Vilnius werde die Allianz „ein klares Signal senden, dass sie bereit ist, die Ukraine aufzunehmen“, hatte der Norweger im Vorfeld des zweitägigen Treffens gesagt. Die Äußerung dürfte nicht allen Verbündeten gefallen.

Wie ist der Stand der Dinge?

Während die Kämpfe auf dem Schlachtfeld weitergehen, sei die Mitgliedschaft nicht auf dem Tisch, hieß es von einem hochrangigen Nato-Offiziellen. „Und als Konsequenz haben wir sie jeden Tag auf dem Tisch.“ Verwirrend? So beschreiben auch Insider die Diskussionen. „Alle sind sich einig, dass die Zukunft der Ukraine in der Nato liegt“, sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gestern in Brüssel. „Aber eigentlich sind sich auch alle einig, dass das nicht passieren kann, solange auf dem Territorium der Ukraine ein Krieg stattfindet.“

In diesen Tagen bereden die Minister die weitere kurz- und langfristige Unterstützung für die Ukraine, führen schwierige Gespräche über Militär-Ausgaben und sie tauschten sich am gestrigen Donnerstag erstmals mit Vertretern aus der Rüstungsindustrie über ihre jeweiligen Erwartungen aus. Pistorius bekräftige, dass im Augenblick „die anhaltende, substanzielle Unterstützung der Ukraine im Vordergrund“ stehe. Trotzdem kommt von manchen Partnern immer wieder dieselbe Forderung auf: „Wir müssen über Bukarest hinausgehen.“

Nur wie? Ist die Entscheidung nicht längst getroffen? Beim Gipfel in der rumänischen Hauptstadt 2008 hatten die Verbündeten der Ukraine eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Zwar galt schon damals ein schneller Beitritt als unwahrscheinlich, trotzdem bekräftigt Stoltenberg regelmäßig die Perspektive. Der Generalsekretär spreche hier jedoch nicht für alle Mitgliedstaaten, hieß es diese Woche hinter den Kulissen. „Er gibt die Debatten, die wir führen, nicht wirklich wieder, sondern interpretiert sie“, sagte ein Beamter und verwies darauf, wie „hochemotionalisiert“ die Frage der Mitgliedschaft sei.

Was ist vom Gipfel zu erwarten?

Das vor neun Monaten eingereichte Gesuch der Ukraine ist bisher unbeantwortet geblieben. Es dürfte dennoch oben auf der Agenda des Gipfels in Vilnius stehen, insbesondere wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ebenfalls anreist. Man sei sich bei diesem Thema „in vielen Punkten einig“, sagte Stoltenberg. Doch während US-Präsident Joe Biden seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine keine Gelegenheit versäumte, die Einigkeit des Bündnisses zu feiern, herrschen doch große Differenzen bei der Frage, wann und wie das kriegsgebeutelte Land beitreten könnte. Einige der Verbündeten, vor allem aus Osteuropa und den an Russland angrenzenden Ländern, wollen der Ukraine noch vor dem Nato-Gipfel nächsten Monat eine feste politische Zusage für den Beitritt machen. Andere Staaten, darunter die USA und Deutschland, lehnen genau Zeitpläne ab – vorerst und zumindest bis bestimmte Ziele nicht erreicht sind. Die „Kritik des Bremsens“ wies Pistorius gestern zurück.

Ist eine Zwischenlösung denkbar?

Auch wenn die Debatten bis zum Gipfel weitergehen werden, gilt es als wahrscheinlich, dass man am Ende ein Modell vereinbart, das mit dem Titel „Bukarest plus“ überschrieben werden kann. Was genau das Plus beinhalten soll, darüber schweigen sich die Offiziellen jedoch aus.

Was kann der Kreis der 31 Partner, zu dem sich vermutlich ab Juli Schweden gesellen wird, Kiew als Alternative anbieten? Da sind zum einen Sicherheitsgarantien für die Nachkriegszeit, deren oberstes Ziel es sei, „den Appetit Russlands auf eine Wiederholung“ zu verderben. Für die nähere Zukunft beschlossen die Verbündeten, den Status des ehemaligen Sowjetstaats in der Allianz aufzuwerten, indem ein sogenannter Ukraine-Nato-Rat eingerichtet wird. Dieser soll die aktuelle Nato-Ukraine-Kommission ersetzen, in der sich beide Seiten treffen und in der Kiew zu Diskussionen eingeladen wird.

Es würde sich um eine Aufwertung der Beziehungen handeln, so betonten Experten, da die Ukraine als „gleichwertiger Partner in strategischen Diskussionen“ mit am Tisch säße und selbst Treffen einberufen könnte. Das Format soll in Vilnius von den Staats- und Regierungschefs formalisiert werden.