Rundschau-AnalyseStehen wir vor einer neuen Flüchtlingskrise?

Unterkünfte für Geflüchtete
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- Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation – diese Themen bestimmen derzeit die öffentliche Debatte.
- Dabei geht ein anderes Thema fast unter, nämlich die steigende Zahl an Zuwanderern.
- Eine Analyse zur Situation in Deutschland
Berlin – Als Erste haben die Kommunen Alarm geschlagen: Ein Landkreis nach dem anderen meldet, keine Aufnahmekapazitäten mehr für zusätzliche Flüchtlinge zu haben. Der Deutsche Landkreistag spricht davon, dass „wir auf Zustände wie 2015/2016 zusteuern“. Die Bundesregierung verspricht Abhilfe, doch bisher ist wenig passiert. Auch, weil die Krise gerade erst angefangen hat. Am 11. Oktober lädt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nun zu einem Flüchtlingsgipfel ein. Eine Analyse.
Gibt es eine neue massive Flüchtlingsbewegung oder nicht?
Die Zahl der Asylbewerber ist in den vergangenen Monaten sprunghaft angestiegen. Bis Ende August wurden laut Bundesamt für Migration (Bamf) rund 115000 neue Anträge gestellt – eine Zunahme um 35 Prozent gegenüber 2021. Deutschland hat dabei schon jetzt mehr Menschen aufgenommen als im gesamten Vorjahr. In diesen Zahlen sind die ukrainischen Kriegsflüchtlinge noch nicht enthalten. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar wurde knapp eine Million Ukrainer registriert. Sie benötigen keinen Asylantrag.
Kann man angesichts dessen von einer neuen Krise sprechen?
Das ist Interpretationssache. Oppositionelle Unionspolitiker warnen, dass die Lage sich zuspitzt, und ziehen Vergleiche zur großen Flüchtlingsbewegung 2015. Es hängt eben auch davon ab, wie man rechnet – und ob man Ukrainer mit berücksichtigt. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagt: „Würde man Asylbewerber und Ukraine-Flüchtlinge zusammenzählen, dann hätten wir bereits jetzt den Wert von 2016 deutlich überschritten.“ Die Ampel-Koalition hält die Warnungen dagegen für übertrieben. Auch die Migrationsexpertin der Linksfraktion, Clara Bünger, sagte unserer Redaktion: „Ich halte diese Aussage für ziemlich alarmistisch.“
Aus welchen Ländern kommen die Asylbewerber?
Die meisten stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Die Menschen kommen wieder verstärkt über das Mittelmeer und die Balkanroute. Vermehrt reisen nach Angaben des Bundesinnenministeriums Menschen auch über Serbien ein. Der Grund: Nach Serbien dürfen manche Bürger – zum Beispiel aus Indien und Bangladesch – visafrei einreisen.
Welche Gründe gibt es für diesen Trend?
Das Bundesinnenministerium nennt auf Anfrage mehrere Gründe für die steigenden Zahlen. Einerseits gebe es Nachholeffekte nach den Reisebeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie. „Zudem hat sich in wichtigen Aufnahme- und Transitstaaten wie der Türkei, Tunesien oder Libyen die wirtschaftliche und innenpolitische Lage verschärft.“
Trägt die Türkei eine Mitschuld an der Entwicklung?
Präsident Recep Tayyip Erdogan will im laufenden Wahlkampf mit einem harten Kurs gegen Flüchtlinge punkten. Er hat allein im laufenden Jahr rund 40000 Afghanen in ihre Heimat zurückgeflogen. Nun fürchten auch die rund vier Millionen Syrer in der Türkei ihre Ausweisung, viele machen sich auf nach Europa. Zudem läuft gerade wieder eine Verhaftungswelle, weshalb auch vermehrt Türken das Land verlassen. Hinzu kommt, dass andere EU-Staaten wie Griechenland und Italien Migranten kaum finanziell unterstützen. Sie lassen Ankommende nach Deutschland weiterreisen, obwohl sie eigentlich zuständig wären.
Wieso ist die Flüchtlingsbewegung bisher so merkwürdig unsichtbar?
Grund dürfte die geräuschlose Aufnahme der ukrainischen Kriegsflüchtlinge sein, die dank großer Hilfsbereitschaft vielfach privat unterkamen. Ukrainer waren nicht verpflichtet, in staatliche Unterkünfte zu ziehen. „Die Folge war, dass es in Deutschland eben keine überlasteten Systeme gab, anders als 2015/16“, sagt die Grünen-Migrationsexpertin Filiz Polat. Dabei konzentrierte sich die Flüchtlingsdebatte seit Februar auf die Ukrainer – während Asylbewerber in den Hintergrund rückten.
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Wie lauten die Forderungen angesichts der steigenden Zahlen?
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) für die Bundespolizei, Andreas Roßkopf, sagt: „Wir brauchen einen modernen Grenzschutz.“ Dazu gehörten neue Streifenfahrzeuge, mobile Kontrollstellen und Drohnen für die Grenzüberwachung. Er kritisierte: „Leider ist bis heute in diesem Bereich nur sehr wenig vorangebracht worden.“
Die Grünen-Politikerin Polat sagt, die Bundesregierung müsse Lehren aus der Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten ziehen: „Schneller Zugang zum Arbeitsmarkt statt Arbeitsverbote, Öffnung der Bundes-Sprachkurse für alle und vor allem, keine unnötigen bürokratischen Hürden zu errichten.“