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Regierungskritik in sozialen MedienMehr als 120 Deutsche sitzen in der Türkei in Haft

Lesezeit 5 Minuten

Die Türkei stellt sich gegen einen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden.

Istanbul – Die türkischen Behörden halten mehr als 120 Deutsche fest. Mehr als die Hälfte von ihnen sitzen in Haft, die anderen dürfen wegen einer Ausreisesperre nicht nach Hause zurückkehren. Das bedeutet, das wesentlich mehr Deutsche in der Türkei festgehalten werden als noch im Juni. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Politikerin Gökay Akbulut hervor, die unserem Büro in Istanbul vorliegt.

Viele werden wegen ihres Engagements in kurdischen Vereinen oder Kritik an der türkischen Regierung festgehalten. Die Haft-Gefahr für Deutsche in der Türkei könnte bald noch weiter steigen. Das Parlament in Ankara berät derzeit über ein Gesetz, das drei Jahre Haft für die Verbreitung von „Falschnachrichten“ vorsieht. Kritiker werfen der Regierung vor, das Gesetz so vage formuliert zu haben, dass fast jede kritische Meinungsäußerung bestraft werden kann.

Verschiedene Gründe für Festnahmen

Das Auswärtige Amt erklärte in seiner Antwort auf Akbuluts Anfrage, derzeit seien 64 Deutsche in der Türkei in Haft; im Juni lag die Zahl bei 55. Außerdem unterliegen derzeit 58 Deutsche in der Türkei einer Ausreisesperre – im Juni waren es 49. Manche Bundesbürger wurden gar nicht erst in die Türkei hineingelassen. Das Auswärtige Amt berichtet von 17 Einreiseverweigerungen im laufenden Jahr; im Juni lag diese Zahl noch bei drei.

Gegen LGBT

Zur Stärkung der traditionellen Familie kündigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Schritte gegen Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle (LGBT) an. „Eine starke Nation setzt eine starke Familie voraus“, sagte er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. „In letzter Zeit haben sie der Gesellschaft LGBT untergejubelt. Mit LGBT streben sie danach, unsere Familienstruktur zu degenerieren.“ Daher müsse man tun, „was nötig ist“.

Erdogan nannte bei seinem Vorwurf zwar keine konkreten Namen – er dürfte aber den türkischen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu meinen, der auch liberale Wählergruppen anspricht. Er wird als möglicher Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im Juni 2023 gehandelt. Kilicdaroglu reagierte umgehend auf Twitter und bezeichnete Erdogan als „Despoten“. Erdogan machte deutlich, dass seine Hoffnungen beim Vorgehen gegen LGBT auch auf dem sogenannten Desinformationsgesetz liegen: „Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes werden wir die, so Gott will, stark ausbremsen“, sagte Erdogan nach Angaben von Anadolu.

Der türkische Präsident bezieht sich auf ein geplantes Gesetz, das laut der Regierung Desinformation im Netz verhindern soll. Die Opposition fürchtet hingegen, dass es zu strengerer Zensur im Internet führt. Die Bestimmung muss noch vom Parlament verabschiedet werden – am Donnerstag hatte das Parlament einige Artikel des Gesetzesentwurfes angenommen. (dpa)

Akbulut sagte unserem Istanbuler Büro, sie habe von Betroffenen gehört, „die aufgrund ihres Engagements allein für kurdische Kultur und Sprache in Deutschland von der türkischen Justiz Haftbefehle erhalten.“ Auch hätten sich Menschen an sie gewandt, „weil sie bei der Einreise in die Türkei allein wegen Beiträgen in sozialen Medien festgehalten wurden. Ihnen werden unter anderem Präsidentenbeleidigung und teilweise sogar Mitgliedschaften oder Unterstützung von vermeintlichen Terrororganisationen vorgeworfen.“

Streitpunkt zwischen der Türkei und Deutschland

Die engen Grenzen für Meinungsfreiheit und Kritik in der Türkei sind seit Jahren ein Streitpunkt zwischen der Türkei und Deutschland. Während die Bundesregierung auf europäische Normen verweist, wirft Ankara den Deutschen und anderen Europäern vor, türkische Regierungsgegner im Ausland unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit gewähren zu lassen.

So lehnt die Türkei bisher einen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden ab, weil die Regierungen der beiden Nordländer aus türkischer Sicht radikale Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan in ihren Ländern schützen. Ankara beklagt unter anderem, dass Anhänger der kurdischen Terrororganisation PKK in nordischen Städten demonstrieren dürfen. Kürzlich verklagte Erdogan den deutschen Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki (FDP) vor einem deutschen Gericht, weil er sich von ihm beleidigt fühlt.

„Ergebnis der schwachen Außenpolitik gegenüber der Türkei“

Aus Sicht von Akbulut ist die steigende Zahl inhaftierter Deutscher in der Türkei „das Ergebnis der schwachen Außenpolitik der Bundesregierung gegenüber der Türkei“. Die türkische Opposition habe sich vom Regierungswechsel in Deutschland und der Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock mehr Unterstützung erhofft. „Diese Erwartung ist leider nicht eingetroffen“, kritisierte Akbulut. „Bei der Bundesregierung stehen geopolitische Interessen vor den internationalen Menschenrechten.“

Erdogan-Kritiker in der Türkei und internationale Presse-Organisationen befürchten, dass der Druck auf Andersdenkende vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr noch zunehmen wird. Sie kritisieren den Entwurf für das neue türkische Desinformationsgesetz als Versuch, Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen.

Parlament berät über „Zensur-Gesetz“

Der Entwurf, der in den kommenden Tagen im Parlament verabschiedet werden soll, stellt „Falschinformation“ unter Strafe, die in der Bevölkerung „Sorgen, Angst oder Panik“ verursachen sollten und die innere oder äußere Sicherheit und die gesellschaftliche Ordnung gefährdeten.

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Der Oppositionspolitiker Mustafa Yeneroglu spricht von einem „Zensur-Gesetz“. Die Regierung wolle sich mit dem Gesetz die Kontrolle über die sozialen Medien sichern, sagte Sibel Günes, die Vorsitzende der türkischen Journalisten-Gewerkschaft TGC. Wenn das Gesetz in Kraft trete, werde Journalismus in der Türkei verboten, fügte sie hinzu.

Mit dem Gesetz könne die türkische Justiz künftig Medien und Privatleute verfolgen, deren Meinungen „den Behörden nicht gefallen“, erklärte auch Gulnoza Said von der Pressefreiheits-Organisation CPJ in New York. Das Gesetz sei so vage, dass es auf „klare Zensur“ hinauslaufe. Die Opposition will nach Verabschiedung des Gesetzes das Verfassungsgericht anrufen.