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Rechtsphilosoph Merkel„Nach der Corona-Krise wird es harte Verteilungskämpfe geben“

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Reinhard Merkel spricht im Interview über den Umgang von Bund und Ländern mit dem Coronavirus.

  1. Reinhard Merkel ist emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, außerdem Mitglied der Leopoldina.
  2. Von 2012 bis April 2020 gehörte er dem Deutschen Ethikrat an. Vor seiner Teilnahme am Philosophie-Marathon auf WDR 5 sprach er mit Hartmut Wilmes.
  3. Dabei standen vor allem die Fehler und Erfolge im Umgang mit dem Coronavirus im Vordergrund.

KölnSie waren Mitverfasser der Ad-hoc-Empfehlungen des Deutschen Ethikrats vom 27. März. Darin wurden angesichts der aktuellen Gefahr durch Covid-19 Freiheitsbeschränkungen als vertretbar eingeschätzt, bei längerem Verlauf aber gefordert, „auch die vielfältigen Folgelasten sozialer und ökonomischer Art zu berücksichtigen“. Ist das rechtzeitig und hinreichend geschehen?

Das ist tatsächlich schwer zu sagen, weil alle Entscheidungen, die getroffen oder unterlassen wurden, unter einem hohen Maß an Unsicherheit stattfanden oder hätten stattfinden müssen. Ich meine, dass die Strategie des Bundes und der Länder zunächst richtig war, Szenarien auf den Intensivstationen, wie wir sie im Elsass, in Italien und in Spanien gesehen haben, unter allen Umständen zu vermeiden.

Und im weiteren Verlauf?

Dann hätten vor allem von den Politikern die Nebenfolgen und -kosten dieser Lockdown-Strategie klarer kommuniziert werden müssen. Im schlimmsten Fall werden wir viele Zehntausende von Insolvenzen erleben, die unmittelbar die Lebenssituation zahlloser Menschen betreffen – mit Schäden für deren psychisches und physisches Wohl. Mir hat dazu der deutliche Ton in der öffentlichen Debatte der Politik, aber auch seriöser Medien gefehlt. Und die Folgen betreffen nicht nur uns: Wenn in Bayern und Baden-Württemberg Bekleidungsbetriebe dichtmachen, werden Zehntausende Arbeiterinnen in Bangladesch arbeitslos; und dort fallen sie nicht in ein soziales Netz.

Dass Virologen beim Auftauchen eines unbekannten Virus wichtige Fachleute sind, ist ja unbestritten. Manchmal entstand hier aber der Eindruck einer alleinigen Deutungshoheit, oder?

Naja, insgesamt waren die politischen und rechtlichen Entscheidungen mit den virologischen und epidemiologischen Befunden als ihren notwendigen Grundlagen so dicht verwoben, dass beides kaum zu trennen war. Lassen Sie mich eine Analogie aus dem Strafprozess anführen: Steht dort die Schuldfähigkeit eines Angeklagten in Frage, werden regelmäßig zwei psychiatrische Gutachter bestellt. Gewiss bleibt der Richter der Entscheider, doch wenn beide Psychiater Schuldunfähigkeit feststellen, ist kaum vorstellbar, dass er auf schuldig erkennt.In der Corona-Krise waren und sind die Politiker die Entscheider, aber die Virologen und Epidemiologen liefern dafür eine unumgängliche Basis.

Nun haben Besuchsverbote in Altenheimen und anfängliche Teilnahmeverbote an Beerdigungen selbst enger Freunde so gewirkt, als seien sie mit der Menschenwürde unvereinbar. Sind solche Grundrechtseinschränkungen von der Verfassung gedeckt?

Dieses Grundrecht in Artikel 1 darf anders die Rechte in den folgenden Artikeln nicht angetastet werden. Ich habe kürzlich eine Beerdigung miterlebt, die mir sehr nahe ging. Einmal dachte ich: Was, wenn das vor acht Wochen gewesen wäre? Die damals viel strengeren Einschränkungen hätte man schwer ausgehalten. In diesem Sinn ist die Frage „Tangiert das nicht die Menschenwürde?“ vollkommen verständlich. Aber der Begriff der Menschenwürde in Artikel 1 ist ein Rechtsbegriff. Und er muss eng gefasst sein. Daher schließt er nicht alles aus, was gemeinhin als „unwürdig“ empfunden wird. So problematisch ich sonst in der Politik das Wort „alternativlos“ finde, meist eine irreführende Notstandsbehauptung: Vor drei Monaten habe ich die Entscheidungen der Exekutive tatsächlich für alternativlos gehalten.

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Und heute?

Es bleiben ungelöste Fragen. Hier ein Beispiel: Herr Söder hat Ende März in Bayern den Katastrophenzustand verkündet. Dort gibt es ein Katastrophenschutzgesetz, das Behörden etwa ermöglicht, Ärzte zwangszuverpflichten. Zwangsarbeit? Ist die im Grundgesetz nicht verboten? Nun kann das in einem Notstand legitim sein. Aber hier ist die Entscheidung, es bestehe ein solcher Notstand, von der Regierung getroffen worden, nicht vom Parlament. Dass die Exekutive selbst die Voraussetzung der Grundrechtsbeschränkungen verkündet, die sie dann anordnet , ist verfassungsrechtlich nicht akzeptabel. Das hat man auch in Berlin gespürt.

Inwiefern?

Eine Woche danach ist das Infektionsschutzgesetz geändert worden. Jetzt gibt es den Behörden weitergehende Befugnisse. Aber das ist erst nachgeliefert worden, und zwar mit einfacher parlamentarischer Mehrheit. Das reicht mir für die Zukunft auch nicht. Die ergriffenen Maßnahmen hatten eine Intensität und Tiefe, die beispiellos ist in der Geschichte der Bundesrepublik. Ich habe zwar nie, wie derzeit manche Schreihälse, unsere Demokratie in Gefahr gesehen. Aber derart tiefe Verfassungseingriffe müssen, auch wenn sie nur auf Zeit erfolgen, besser legitimiert werden. Sie brauchen, meine ich, eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Manche glauben ja an eine bessernde Wirkung der Corona-Krise auf Individuen und Gesellschaften. Sie auch?

Nein. Was die anthropologische Annahme betrifft, der Mensch sei von Natur aus gut, bin ich Skeptiker. Ich glaube, Immanuel Kant hatte recht mit seinem Satz, der Mensch sei „aus krummem Holz geschnitzt“. Wir werden nach dem Abflauen der akuten Krise harte Verteilungskämpfe erleben. Und dass wir dank Corona eine bessere, sozialere, moralischere Gesellschaft werden, glaube ich nicht. Eher fürchte ich das Gegenteil.

Und was können, müssen wir aus der Krise lernen?

Wir müssen uns fragen, was wir tun, wenn eine solche Pandemie wiederkommt. Wir wissen dann, dass es Tausende von Opfern geben kann, aber wir werden dieses höhere allgemeine Risiko in unser soziales Leben integrieren müssen. Denn die Alternative, jedes Mal einen Lockdown auszurufen, würde die Welt ruinieren, nicht nur Deutschland.