Bonner Philosoph Gabriel mit Kritik zu Corona-Regeln„Wir sind zur Herde geworden“
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In der Corona-Krise haben Mediziner und Politiker die größte Redezeit in der Öffentlichkeit.
Um hier ein wenig gegenzusteuern, hat Hartmut Wilmes den Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel nach seiner Sicht der Dinge gefragt.
Er findet, dass unter anderem die Politik ein Vabanque-Spiel eingegangen ist und einige Entscheidungen nicht hinreichend durch virologische Expertise abgedeckt sind.
Bonn – Wir erleben meiner Ansicht nach momentan ja fast eine Expertenregierung, ein Diktat der Ideologen. Wie beurteilen Sie das?
Es gibt eine auffällige Argumentationslücke, auf die vor Jahrzehnten Hannah Arendt hingewiesen hat. Diese Lücke besteht darin, dass aus keiner naturwissenschaftliche Tatsache, wie gut sie auch begründet sein mag, eine ethische oder politische Entscheidung folgt. Die ist eben nicht durch das Robert-Koch-Institut abgedeckt.
Ich diskutiere oft mit einem berühmten deutschen Schriftsteller, der nicht genannt werden will und in New York wohnt.
Könnte er mit Vornamen Daniel heißen?
Also gut, nennen wir ihn Herrn Daniel. Ich habe ihn gefragt, ob er in dieser Situation nicht nach Deutschland kommen wolle, er bleibt lieber in den USA. Weil es eine Beleidigung für sein Selbstbild wäre, wenn ihm der Veterinärmediziner vom RKI vorschreiben würde, was er zu tun habe.
Jeden Abend komme hier der apokalyptische Reiter ins Fernsehen und verkünde die düsteren Nachrichten. Wir hofften alle, dass dieser Veterinärmediziner der eingepferchten Herde irgendwann wieder erlaubt, in den Altstädten zu grasen. Das ist gefühlt inakzeptabel: Wir sind zur Herde geworden.
Nur gefühlt inakzeptabel?
Die Rechtfertigung ist natürlich die Präsenz eines Virus, dessen genaue Gefahren wir noch nicht kennen. Darauf zu reagieren, um Menschen zu schützen und Infektionsketten zu durchdringen, ist das Gebot der Stunde. Dennoch sind diese Entscheidungen nicht hinreichend durch virologische Expertise abgedeckt.
Zumal das erste Opfer des Virus doch die exakte Wissenschaft ist. Hier werden aufgrund hoher Dunkelziffern unzuverlässige Infiziertenzahlen und unzuverlässige Quoten von Todesopfern publiziert.
Unsere Politik ist hier ein Vabanque-Spiel eingegangen. Sollte sich zum Beispiel in sieben Monaten herausstellen, dass die Letalitätszahlen des neuen Coronavirus zu nahe an der Influenza liegen, wird man das Lahmlegen der Weltwirtschaft in nie dagewesener Weise nicht rechtfertigen können.
Die erste Studie, der ich hier vertraue, ist die Heinsberg-Studie von Streeck. Es müsste weltweit solche Studien geben, doch China wird niemanden hereinlassen, und die Ereignisse dort werden für uns ein Mysterium bleiben. Die Lage ist jedenfalls erheblich ambivalenter, als sie in den ersten Wochen, als wir uns alle bereitwillig zurückgezogen haben, aussah.
Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Ad-Hoc-Empfehlung zur Krise auf einer „Abwägung konkurrierender moralischer Güter bestanden“…
Darauf reagierte unser Landesvater Armin Laschet als kluger Krisenmanager, indem er einen Expertenrat zusammenstellte, in dem auch Soziologen und Philosophen vertreten sind, und indem er eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben hat, um eine interdisziplinäre Exit-Strategie zu entwickeln. Die Bundesregierung scheint das nicht zu tun.
Und wie erklären Sie sich die bisherige Duldung der Freiheitseinschnitte in Deutschland durch den entmündigten Bürger?
Das ist in der Tat durch alle Gesellschaftsschichten erstaunlich. Einerseits zeigt sich da die Sehnsucht nach dem starken Staat – das erklärt das Sinken der AfD-Prozente zugunsten der CDU bzw. CSU. Vielen gefällt das Gefühl geschlossener Grenzen, endlich bleiben die Fremden draußen. Dann ist es die nackte Angst aufgrund der Bilder aus Italien, Spanien und New York City. Eine apokalyptische Stimmung gibt einem auch das Gefühl von Bedeutsamkeit. Dazu kommt etwas Positives: das Gefühl, dass moralische Politik möglich ist. Das beeindruckt mich. Doch was passiert, wenn das alles abflaut?
Woran denken Sie da?
Auf die Willkommenskultur 2015 folgte ein gefährlicher Angriff auf die Demokratie, der wie zuletzt noch in Hanau in rechtsextremem Terrorismus gipfelte, der wieder einmal nicht als solcher eingestuft wurde. Es wird nicht reichen, zu sagen: So, jetzt hatten wir mal einen Monat Moral, und jetzt können wir weiter die Umwelt zerstören.
Manche sehen ja als positive Nebenwirkungen der Krise Dinge wie Entschleunigung und Abkopplung vom Konsum.
Das ist Wunschdenken. Wer dauernd Netflix streamt und surft, konsumiert auch. Wir arbeiten damit bereitwillig für US-amerikanische Internet-Giganten. Indem wir scheinbar entschleunigen, beschleunigen wir mit jedem Klick und Like die Digitalisierung.
Noch einmal zum Lockdown. Was stört Sie daran besonders?
Wir blicken gern besorgt nach Ungarn. Aber wenn ich den Tweet der Münchner Polizei sehe, dass es in Bayern verboten ist, ein Buch auf einer Bank zu lesen, kann ich nur sagen: Das ist der Hammer. Auch bei uns sitzt die liberale Demokratie nicht so fest im Sattel, wie man das mit dem stereotypen Blick ins Ausland meint. Am unerträglichsten finde ich es, dass die politischen Stimmen unserer Kinder nicht zu Wort kommen, die sie nicht selbst erheben können.
Es wird offensichtlich, dass undifferenzierte Kita- und Schul-Schließungen nicht länger das Patentrezept zur Unterbrechung von Infektionsketten sein dürfen. Kinder können das Spielen im Freien mit Gleichaltrigen nicht ins Internet verlegen. Und Bildung lässt sich nicht digitalisieren.
Und wie sieht die nächste Zukunft aus?
Die Politik wird es sich nicht mehr lange erlauben können, ohne sehr konkrete Exit-Strategien mit Daten und Maßnahmen aufzutreten. Die Bürger lassen sich da nicht weiter vertrösten.