Oberstleutnant im InterviewBundeswehrverband sieht Staatsversagen in der Pandemie
- Die Corona-Pandemie sei „ein laues Lüftchen im Vergleich zu den Bedrohungsszenarien, mit denen wir uns eigentlich befassen müssten“, warnt Oberstleutnant André Wüstner.
- Der Chef des Bundeswehrverbandes fordert eine bessere Katastrophenvorsorge.
- Mit André Wüstner sprach Gregor Mayntz.
Überall in Deutschland erlebt die Bevölkerung in der Pandemie „helfende Hände“ mit Uniform – wie erleben die Soldaten das selbst?André Wüstner: Sie erleben ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Vieles ist schief gelaufen, Deutschland hat große strukturelle Probleme, diese Pandemie in den Griff zu bekommen, aber es packen viele mit und ohne Uniform an, um das beste aus der Situation zu machen, um Leben zu retten. Die Bundeswehr hilft jetzt sogar erneut im europäischen Ausland.
Zur Person
Oberstleutnant André Wüstner, Jahrgang 1974, ist seit 2013 Bundesvorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes. 2017 wurde der Panzergrenadier in seine zweite Amtszeit an der Spitze des Berufsverbandes gewählt. Der gebürtige Unterfranke war mehrfach in Auslandseinsätzen, etwa im Kosovo und in Afghanistan. Wüstner wohnt im rheinland-pfälzischen Montabaur.
Gibt es auch positive Begegnungen mit Leuten, die die Bundeswehr zuvor meist negativ gesehen haben?
Für das gegenseitige Verständnis auch innerhalb des öffentlichen Dienstes ist die Amtshilfe natürlich sehr gut. Da gab es viele Sorgen um eine „Militarisierung“ der Verwaltung. Und jetzt erlebt man das Gegenteil. Soldaten sind aufgrund von Organisationsvermögen und Stressresistenz hoch anerkannt. Und man weiß, wie sehr man gerade jetzt aufeinander angewiesen ist. Nebenbei: Alle haben erkannt, dass wir es im letzten Jahr und teilweise noch heute mit einem größeren Staats- sowie Verwaltungsversagen zu tun haben und gerade deshalb nur gemeinsam durch die Pandemie kommen.
Wer versagt?
Nicht die einzelnen Menschen im System, die wirklich alles geben. Die Strukturen sind systematisch vernachlässigt worden. Das rächt sich jetzt und zeigt sich in der völlig unzureichenden personellen und materiellen Ausstattung nicht nur in den Gesundheitsämtern. Ich ziehe meinen Hut vor den Bürgermeistern und Landräten, denn die müssen aus dem Nichts ein Maximum aus den mit heißer Nadel gestrickten Verordnungen machen.
25 000 Soldaten stecken in der Corona-Amtshilfe. Angesichts einer auf unter 200 000 Kräfte geschrumpften Truppe stellt sich die Frage, ob die Bundeswehr das auf Dauer leisten kann.
Nein, das kann sie nicht. Wir müssen aktuell sehr aufpassen, dass wir nicht in einen schleichenden Verlust unserer Einsatzbefähigung abdriften. Die Verbindung von Amtshilfe und eigenen Hygienevorkehrungen führt dazu, dass Ausbildung und Übung vielerorts ausfallen. Ehrlich gesagt: Es ist doch ein Wahnsinn, dass die Bundeswehr als nicht zuständige Organisation seit über einem Jahr ununterbrochen Dienst im Innern leistet, weil es andere schlichtweg nicht gebacken kriegen.
Das heißt, dass die zivilen Strukturen auf eine große Katastrophe nicht eingestellt sind?
Wir sehen doch jetzt, dass wir völlig unzureichende Strukturen und Verfahren haben, um Krisen und flächendeckende Katastrophen bewältigen zu können. Wir müssen daraus schnellstmöglich lernen. Die Bundesregierung sollte bis zum Sommer einen Erfahrungsbericht vorlegen und aufzeigen, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Da hat sich auch die Innenministerkonferenz in der Vergangenheit nicht mit Ruhm bekleckert. So eine Pandemie ist ein laues Lüftchen im Vergleich zu den Bedrohungsszenarien, mit denen wir uns eigentlich befassen müssten.
Woran denken Sie?
An Herausforderungen und Bedrohungsszenarien, wie sie bereits 2016 im Weißbuch beschrieben wurden. Nehmen Sie als Beispiel eine Anschlagswarnung auf Bayer in Leverkusen, dann kurz darauf Giftgasangriffe in mehreren Städten gleichzeitig, wie es sie in anderen Ländern schon gegeben hat, dann legt eine große Cyber-Attacke unsere Wasser- und Stromversorgung lahm. Und das bedeutet angesichts der Ausstattung mit Notstromaggregaten, dass nur noch höchstens 20 Prozent der Krankenhäuser voll funktionsfähig bleiben, von der so nst kritischen Infrastruktur ganz zu schweigen. Schlimmstenfalls trifft uns das mit einer außenpolitischen Bedrohung beispielsweise an der Ostflanke der Nato. Unvorstellbar? Keinesfalls.
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Die Bundeswehr hat schon viele Reformen hinter sich. Brauchen wir jetzt, angesichts der veränderten Lage, wieder eine große Reform?
Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, aber der Handlungsbedarf für optimierte Führungsstrukturen ist enorm. Die Trendwenden der letzten Jahre wirken durch eine gewisse Lähmung des Systems nur begrenzt, um die Bundeswehr auf die seit 2016 veränderte Auftragslage einzustellen. Ich kann nur hoffen, dass genügend Druck aufgebaut wird. Denn so wie wir derzeit aufgestellt sind, reicht es nicht, um auf Risiken und Bedrohungen im Ausland wie im Inland bestmöglich reagieren zu können.