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Nach ImpfgipfelMythen zum verpatzten Impfstart in Deutschland im Faktencheck

Lesezeit 4 Minuten
Impfung Symbolbild 020221

Ein Arzt verabreicht einem Senior eine Impfung gegen das Coronavirus.

Berlin – Der Impfgipfel dauerte viele Stunden, die Kanzlerin bekräftigte ihre Zusage, dass alle Bürger in Deutschland bis zum 21. September ein Impfangebot erhalten sollen. Doch der internationale Vergleich bleibt ernüchternd: In Deutschland sind bislang rund drei Prozent der Bevölkerung gegen Corona geimpft. In Großbritannien sind es schon 14 Prozent, in Israel gar 56 Prozent. Und viele Gipfel-Erklärungen zum Rückstand überzeugen nicht. Ein Faktencheck.

Gründliche Prüfung verzögert das Impftempo

Angela Merkel begründet das langsame Impftempo damit, dass sich die EU gegen eine Notzulassung entschieden habe. „Aus guten Gründen: Es geht hier nämlich auch um Vertrauen“, so die Kanzlerin. In einem hat sie recht: Angesichts der geringen Impfbereitschaft war es wichtig, dass die Behörden gründlich prüfen.

Schließlich wollten sich zunächst nur 53 Prozent der Deutschen impfen lassen. Für eine Herdenimmunität braucht man aber wegen der Mutationen inzwischen eine Impfquote von 80 Prozent, laut Kanzlerin müssen sogar 73 Millionen ein Angebot erhalten. Die gründliche Prüfung erklärt vielleicht, warum Deutschland später als Großbritannien angefangen hat zu impfen. Sie erklärt aber nicht, warum es jetzt so langsam vorangeht.

Denn die Hersteller haben bereits mit der Impfstoff-Produktion begonnen, als sie noch gar keine Zulassung hatten. Nur hat die EU einfach nicht bestellt. „Der Prozess in Europa lief nicht so schnell ab wie mit anderen Ländern“, sagte Biontech-Gründer Ugur Sahin unlängst im „Spiegel“. „Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug. Mich hat das gewundert.“

Datenschutz verzögert das Impftempo

Die Kanzlerin betonte auch, dass es in anderen Ländern wie Israel einen anderen Umgang mit Daten gebe. Das will Ulrich Kelber, der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung, nicht auf sich sitzen lassen. „Das ist schon ärgerlich. Der Datenschutz ist nicht schuld an mangelhafter Digitalisierung der Gesundheitsämter, Verspätungen beim Impfen“, schrieb Kelber bei Twitter. Das sei ein „unfaires Ablenkungsmanöver zu Lasten eines Grundrechts“.

Haftungsfragen verzögern das Impftempo

Die Kanzlerin führte als weiteren Grund an, dass die EU lange über Haftungsfragen verhandelt habe. Auch das ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Großbritannien hat die Pharmafirmen früh von der Haftung freigestellt – bei möglichen Impfschäden tritt der Staat ein. Das machte es den Unternehmen leichter, schnell zu liefern. Man fragt sich, wieso die EU nicht ebenso rasch Haftungsrisiken übernommen hat.

Am Geld kann es nicht liegen, die Pandemie kostet jeden Tag Milliarden. Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), zieht ein entsprechendes Fazit: „Der Impfgipfel konnte wenig bewegen und diente eigentlich nur dazu, parteipolitische Schäden des Versagens auf europäischer Ebene sowie des schlechten Managements auf Ebene der Bundesländer zu minimieren“, sagte er unserer Redaktion.

Mehr Geld bringt auch nichts

Wichtig war Merkel der Hinweis, dass der holprige Start nicht am Geld liege. Sie zitierte einen Biontech-Manager: „Mehr Geld hätte auch nicht mehr Kapazitäten mit sich gebracht.“ Das stimmt – für die aktuelle Lage. Denn es stehen keine leeren Pharmafabriken herum, die man umrüsten kann. Allerdings hätte im Sommer 2020 mehr Geld viel bewirken können

„Die EU hat zu spät und zu sehr auf den Preis achtend verhandelt“, sagt IW-Chef Hüther. Das habe den Mangel an früh verfügbarem Impfstoff verursacht, diese Verzögerungen seien nicht leicht zu kompensieren. Schon im Mai hatten Ökonomen vorgeschlagen, eine „vorgezogene Marktverpflichtung“ einzuführen: So sollten sich etwa die USA verpflichten, die ersten 300 Millionen Dosen bewusst zum überhöhten Preis (100 Dollar) zu kaufen, um den Firmen Anreize für eine schnellere Produktion zu geben. Die EU wollte davon nichts wissen. Vertreter von IDT Biologika sollen beim Gipfel klar gesagt haben, man hätte Astrazeneca-Impfstoff zulasten anderer Produkte herstellen können, wenn jemand (also der Staat) die Regresszahlungen übernommen hätte.

Zwangslizenzen helfen gegen den Mangel

Die Linkspartei schlägt vor, Zwangslizenzen einzuführen. So sollen die Impfstoff-Hersteller gezwungen werden, ihr Wissen mit anderen Firmen zu teilen. Die rechtliche Grundlage dafür liefert das Infektionsschutzgesetz. Allerdings wäre das ein verheerendes Signal. Firmen dürften sich künftig überlegen, ob sie hier teure Innovationen auf den Markt bringen. Zudem verweist Biontech-Chef Sahin auf praktischen Probleme: Selbst große, erfahrene Unternehmen würden alleine für den Aufbau der Abfüllung „mehrere Monate“ brauchen. Der Bayer-Konzern etwa, der nun auch den Biontech-Impfstoff produzieren soll, fängt an, seine Fabriken in Wuppertal umzurüsten – und wird nicht vor Jahresende die erste Dosis ausliefern können

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Hoffnung machte am Dienstag die Nachricht, dass der russische Impfstoff Sputnik eine Wirksamkeit von 91,6 Prozent haben soll, so das Fachmagazin „Lancet“. Doch das Fazit zum Gipfel bleibt trübe: „Er ist ein Testat dafür, wie unkoordiniert und wenig planvoll das Krisenmanagement sich vollzieht“, so Hüther. FDP-Chef Christian Lindner sprach von einem enttäuschenden Ergebnis, daraus dürfe kein Dauer-Lockdown bis Ende Sommer folgen.