Präsident Putin sucht den Schulterschluss mit Diktator Kim, während seine Truppen zurückgedrängt werden. Wie stark stehen die russischen Angreifer unter Druck?
Gegenoffensive der Ukraine„Neunzig Prozent werden sterben“ – Die hohen Kosten der Befreiung
Rettet der nordkoreanische Diktator Kim Jong Un seinen Kumpan Wladimir Putin? Wie elend es der Bevölkerung Nordkoreas auch gehen mag, eine Ressource besitzt das Land im Überfluss. „Nordkorea verfügt wahrscheinlich über die größten Bestände an alten Artilleriegeschossen aus der Sowjetzeit, mit denen die durch den Ukraine-Konflikt erschöpften russischen Bestände aufgefüllt werden könnten“, hat Joseph Dempsey von der Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS) der Nachrichtenagentur afp gesagt. Geschosse gegen Lebensmittel, Dünger und Erdöl?
Mag sein, dass Putin und Kim in Wladiwostok solche Geschäfte schließen wollen. Aber was hätte Putin davon? Wie steht es um die Chancen der russischen Angreifer, ihre nach dem Überfall auf die Ukraine und nach den ukrainischen Gegenoffensiven des letzten Jahres noch vorhandene Beute zu verteidigen?
Was wissen wir eigentlich über den Kriegsverlauf?
Es ist paradox: Einerseits ist der russisch-ukrainische Krieg der erste militärische Großkonflikt, der auch in den sozialen Medien tobt. Man könnte glauben, die Kämpfe nahezu in Echtzeit verfolgen zu können. Trotzdem ist die Lage an vielen Frontabschnitten nur umrisshaft bekannt.
Die russischen Generalstabsberichte sind auch bei den eigenen Leuten für absurde Übertreibungen berüchtigt. Die ukrainische Militärführung äußert sich selektiv und oft mit wochenlanger Verzögerung. Erst in dieser Woche machte der ukrainische Militärgeheimdienst seine offenbar erfolgreichen Kommandoaktionen gegen von Russland besetzte Gasplattformen westlich der Krim publik, die bereits Ende August erfolgt waren. Aktuell deuten alarmistische Berichte russischer Blogs auf ein ukrainisches Vorrücken bei Opytne nahe dem Flughafen von Donezk hin. Zurückweichende Russen sollen unter den Beschuss der eigenen Leute geraten sein, Folge: 27 Tote. Eine unabhängige Bestätigung fehlt. Das US-amerikanische Institute for the Study of War, das alle erdenklichen Informationen über den Kriegsverlauf sammelt, hat bei Optyne noch keine Änderung des Frontverlaufs erfasst.
Manche Erkenntnisse lassen sich indirekt gewinnen. Vor ein paar Tagen feierten pro-russische Blogger den wohl ersten erfolgreichen Angriff auf einen ukrainischen Panzer der britischen Bauart Challenger. Totalschaden, die Besatzung überlebte. Ungünstig für die Russen: Die Bilder legten nahe, dass die Ukraine hier schon erheblich vorgerückt war. Am 7. September wurden Aufnahmen von Truppen der prorussischen „Volksrepublik Donezk“ publik, die gegen Ukrainer kämpften und geographisch zu verorten waren. Der Kampf fand bei Bachmut in einem Gebiet statt, das zuvor russisch kontrolliert erschien. Solche Geolokalisierungen sind eine wichtige Basis für die Analyse des Kriegsverlaufs. Satellitenaufnahmen können Schanzarbeiten ebenso belegen wie die Zerstörung von Stellungen. Das eigentlich für Zwecke des Umwelt- und Katastrophenschutzes entwickelte Nasa-Feueralarmsystem Firms weist auf Häufungen von Großbränden hin. Dass diese Brände zum Beispiel durch Artilleriebeschuss entstanden sind, muss dann aber durch weitere Hinweise plausibel gemacht werden.
Wie sieht die bisherige ukrainische Bilanz aus?
Nach Darstellung von Vizeverteidigungsministerin Hanna Maliar hat die Ukraine seit Beginn ihrer Gegenoffensive vor drei Monaten an zwei Frontabschnitten insgesamt 305 Quadratkilometer befreit. Darstellungen des – seriösen – proukrainischen Bloggers Noelreports summieren sich auf über 400 Quadratkilometer, das entspräche der Fläche der Stadt Köln. Maliar hatte allerdings auch nur pauschal vom „Süden“ und von der Umgebung von Bachmut gesprochen. Es ist unklar, was ihre Flächenbilanz einbezieht. Zur Lage am östlichen Dnipro-Ufer, auf dem die ukrainische Armee ihre Positionen ausbaut, schweigt sie.
Einen wichtigen taktischen Erfolg hat die Ukraine bei Robotyne erzielt. Die Siedlung ist nicht irgendein Dorf in der Region Saporischschja, sondern nun konnte die Ukraine die sogenannte Surowikin-Linie erreichen, einen nach dem früheren russischen Luftwaffenchef und zeitweiligen Oberkommandieren im Ukraine-Krieg Sergej Surowikin benannten Komplex von Befestigungen. Inzwischen versucht die Ukraine beim Nachbarort Werbowe die zweite Staffel dieser Befestigungen zu durchbrechen. Der Preis ist hoch. „Neunzig Prozent der Jungs hier werden sterben“, berichtete ein ukrainischer Soldat der britischen „Times“.
Auffallend optimistisch hat sich der ukrainische Brigadegeneral Oleksandr Tarnawski geäußert. Er geht davon aus, dass die hinteren Staffeln der Surowikin-Linie viel dünner besetzt sind als die bei Werbowe überwundene erste Linie.
Allerdings zeigen die Kämpfe bei Robotyne auch: Von großen, raschen Panzervorstößen kann keine Rede sein. Ihre Erfolge erzielt die Ukraine mit Infanterieeinsätzen. Und der Analyst Brady Affrick weist darauf hin, dass die Russen im Hinterland neue Linien ziehen. Wie soll das weitergehen? 300 oder 400 Quadratkilometer in drei Monaten, ist das nicht nahezu Stillstand?
Kann die Ukraine ihre Ziele noch erreichen?
In der Tat: Das Tempo der ukrainischen Offensive bleibt hinter westlichen Erwartungen zurück. Kiew hatte zwar keine Meilensteine verkündet, aber der von Beobachtern erhoffte strategische Durchbruch zum Asowschen Meer bis zum Jahresende ist schwer vorstellbar.
Unsinnig wäre es allerdings, das bisherige Tempo hochrechnen zu wollen – dann würde die Ukraine mehr als 20 Jahre brauchen, um alle okkupierten Gebiete zu befreien. Hilfreich ist da die Erinnerung an die Cherson-Offensive im vergangenen Jahr. Sie dauerte von August bis November, und die Ukraine schien kaum voranzukommen – bis das Gebiet plötzlich frei war.
Auch heute wird die Ukraine keine Schlacht etwa um die Großstadt Melitopol beginnen – mit verheerenden Zerstörungen und vielen zivilen Opfern im Gefolge. Das hat man auch bei Cherson vermieden und vielmehr darauf gesetzt, die Okkupatoren in eine militärisch aussichtslose Lage zu bringen.
Die aktuelle Offensive hat allerdings eine ganz andere Dimension. Bei Cherson ging es um einen schmalen, gut 150 Kilometer langen Dnipro-Uferstreifen. Die Luftlinien-Entfernung von der Kinburn-Halbinsel, dem westlichsten Teil des noch russisch besetzten Gebiets, bis zur Hafenstadt Berdjansk am Asowschen Meer beträgt rund 400 Kilometer, nach Mariupol sind es noch 60 Kilometer mehr. Ferner: In Cherson konnten sich die Besatzer nur aus einer Richtung versorgen, über den breiten Dnipro hinweg. Im jetzt umkämpften Gebiet verfügt die russische Seite über Zuwege aus zwei Richtungen, über die besetzte Krim und vom Osten her. Es ist ja das ukrainische Ziel, diese Querverbindung zu unterbrechen. Und: Während der schmale Uferstreifen bei Cherson komplett von Angriffen ukrainischer Raketenartillerie (Himars/M270/Mars II) erreicht werden konnte, ist der jetzt betroffene Gebietsstreifen mit abschnittsweise weit über 100 Kilometer zu breit dafür.
Die Ukraine muss also rund um Melitopol und Berdjansk erst noch Verhältnisse wie jene schaffen, unter denen die Russen bei Cherson gescheitert sind.
Dabei wird es nicht den einen großen Schnitt geben. Unübersehbar ist ein allmähliches Sich-Vorschieben. Ein Etappenziel wäre erreicht, wenn die Küstenstraße M14 in den Einwirkungsbereich ukrainischer Raketenwerfer käme. Wichtig sind ukrainische Angriffe über größere Distanz auf russische Stützpunkte und Logistikknoten sowie auf die Krim-Brücken. Deshalb das zunehmend emotional formulierte Drängen auf die Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper, denn der ukrainische Vorrat an den technisch verwandten britisch-französischen Produkten (Storm Shadow/Scalp) geht zur Neige.
Wie wirkt die ukrainische Zersetzungsstrategie?
Schon kurz nach Beginn des Kriegs hatte der australische Militäranalyst und Ex-General Mick Ryan die ukrainische Strategie der „Korrosion“ beschrieben, also der Zersetzung des russischen Militärapparats in allen Dimensionen von der Logistik bis zur Kampfmoral – man denke an das verheerende Bild der russischen Armeeführung in nationalistischen Blogs. Das gehört zur Zwischenbilanz der Offensive genauso wie das Zählen von Quadratkilometern.
Systematisch hat die Ukraine russische Artilleriesysteme ausgeschaltet. Vom Bloggerbericht bis zu den Nasa-Firms-Daten gibt es viele Indizien dafür, dass Russlands einst erdrückende Artillerie-Überlegenheit der Geschichte angehört. Bei der Munition mag Putin Hilfe aus Nordkorea erwarten. Bei einem anderen Mangel eher nicht: Geschützrohre verschleißen. Schon im November 2022 berichtete die regimekritische „Nowaja Gaseta“ von Schwierigkeiten. Bei einer Ausschreibung habe kein Rüstungskonzern mehr Ersatzrohre mit ausreichender Qualität liefern können. Geschütze mit verschlissenen Rohren schießen nicht mehr präzise, müssen dichter hinter der Front platziert werden und sind dann selbst umso stärker gefährdet.
Was immer Kim im Gepäck hat, die Ukraine will auch in der herbstlichen Schlammsaison und im Winter weiterkämpfen. Am Ende wird es darauf ankommen, welche Seite die größeren Ressourcen mobilisieren kann.