Am Gazastreifen scheint eine großangelegte Bodenoffensive durch das israelische Militär bevorzustehen. Worauf müsste sich Israel bei einem solchen Einsatz gefasst machen – kurzfristig und langfristig?
Nahost-KonfliktWas erwartet Israel bei einer Bodenoffensive?
In der vergangenen Woche stießen israelische Truppen bereits punktuell in den Gazastreifen vor, während die Luftwaffe weiter Ziele bombardiert. Nach Einschätzung der Experten Peter R. Neumann, Politikwissenschaftler und Publizist, und Michel Wyss von der Militärakademie an der ETH Zürich könnte die Bodenoffensive bald starten.
Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King's College London und hat sich in seiner Forschung intensiv mit Themen wie Sicherheitspolitik und Terrorismus beschäftigt. Wyss ist er Doktorand an der Universität Leiden und forscht zu Stellvertreterkriegführung unter nichtstaatlichen Akteuren. Er hat mehrere Beiträge zur Hamas und der Hisbollah verfasst.
Wird es zu einer Bodenoffensive gegen die Hamas kommen?
Für Neumann ist klar, dass Israel in den Gazastreifen vorrückt: „Ich denke, dass die Bodenoffensive kommen wird.“ Es könne aber noch etwas dauern, bis es so weit sei. Das liege daran, dass zunächst eine ganze Reihe an komplexen Fragen beantwortet werden müssten. So sei zu klären, was politisch und militärisch erreicht werden soll und wie ein Flächenbrand in der Region verhindert werden kann. Die Ziele Israels sind für Michel Wyss dabei der entscheidende Faktor. „Wenn Israel daran festhält, dass sie die Hamas zerstören beziehungsweise entmachten will, dann ist eine Bodenoffensive vermutlich unumgänglich. Nur mit Luftangriffen allein wird es nicht möglich sein, die Hamas zu zerstören“, sagt er.
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Was steht den israelischen Soldaten bei einem Einmarsch bevor?
Rückt Israel mit Bodentruppen in das Gebiet ein, stehen die Soldaten vor einer unheimlich schwierigen Mission. „Erstens ist Gaza sehr dicht besiedelt, es hat ungefähr die Fläche von Köln, aber doppelt so viele Einwohner. Zweitens ist Hamas sehr eng verwoben mit der Gesellschaft, sodass es sehr schwer ist, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden. Drittens wird die Hamas versuchen, den Israelis Fallen zu stellen, sie in Häuserkämpfe zu verwickeln“, zählt Peter Neumann die Gefahren auf. Und dann gebe es das weitverzweigte Tunnelsystem, das auf 400 Kilometer Länge geschätzt wird. „Dadurch wird es für die Hamas möglich, von den Israelis unbeobachtet, Kämpfer und Material zu bewegen. So können selbst Gebiete, die für die Israelis eigentlich als befreit gelten, wieder zu Kampforten werden.“ Beide Experten schätzen die israelische Armee als grundsätzlich gut auf eine Bodenoffensive vorbereitet ein. Dennoch rechnet Michel Wyss mit einem äußerst gefährlichen Einsatz. „Es sind schon bei der letzten Bodenoffensive 2014 über 60 israelische Soldaten gestorben. Man muss davon ausgehen, dass sich die Hamas nochmals besser vorbereitet hat, dass sie sich in Gefechtstechnik und Taktik weiterentwickelt hat. Die Israelis haben sich natürlich auch auf solche Szenarien eingestellt, aber ich fürchte, es würde eine blutigere und verlustreichere Operation werden als 2014“, sagt Wyss.
Was kann Israel mit einer Bodenoffensive erreichen?
Diese Frage ist für beide Experten ein möglicher Grund, weshalb es bisher noch nicht zur Offensive gekommen ist. Denn es sei fraglich, ob die Ziele, die im Raum stehen – eine völlige Zerstörung der Hamas und eine Rettung der fast 200 Geiseln – erreichbar seien. „Das Mindestziel ist, die gesamte militärische Infrastruktur der Hamas zu zerstören. Sodass die Hamas, selbst wenn sie in irgendeiner Form zurückkommt, Jahre bräuchte, um sie wiederaufzubauen. Das zweite Ziel ist, im Gazastreifen auch die politischen Strukturen der Hamas so zu beschädigen, dass es für sie nicht mehr möglich ist, die Regierung zu stellen“, analysiert Neumann. Wyss traut Israels Armee eine Zerstörung der Hamas grundsätzlich zu. „Aber das ist letztlich eine Frage der Kosten: Wie lange würde eine solche Offensive dauern, wie blutig wird sie? Da geht es um eigene Verluste, aber auch Kollateralschäden, insbesondere unter der Zivilbevölkerung“, gibt er zu bedenken. Zudem vermutet er, dass die Hamas auch im Süden des Gazastreifens über Infrastruktur verfügt. Um diese zu vernichten, müsste die Bodenoffensive also das gesamte Gebiet umfassen. Mit Blick auf die Geiseln sieht Wyss die Israelis vor einer fast noch schwereren Aufgabe. „Man muss davon ausgehen, dass Geiseln sterben könnten“, stellt er klar. Einerseits seien Befreiungsaktionen immer extrem schwierig. „Ein zweiter Punkt ist, dass die Geiseln an Wert verlieren, sobald die Hamas realisieren sollte, dass das israelische Ziel ihre effektive Auslöschung ist“, fügt der Militärexperte an. Letztlich seien die Geiseln vor allem Verhandlungspfand. Sobald die eigene Existenz der Terroristen auf dem Spiel stünde, wäre die Sicherheit der Geiseln für sie weniger relevant.
Was droht der Zivilbevölkerung im Gazastreifen?
Mit dem Start der Bodenoffensive dürften es auch weitaus mehr zivile Opfer geben, als es diese bisher durch die Bombardements der israelischen Luftwaffe gegeben hat. Israel hat zwar mehrfach zu Evakuierung des Nordens des Gazastreifens aufgerufen und nach israelischen Angaben haben bereits über eine halbe Million Palästinenser den Norden des Gazastreifens verlassen, doch Michel Wyss hält es für möglich, dass sich dort noch mehrere Hunderttausend Menschen aufhalten könnten. „Man muss deshalb tendenziell mit vielen zivilen Todesopfern rechnen.“ Ein Weg, Zivilisten zu retten, könnte eine Öffnung der ägyptischen Grenze sein, um Zivilisten aus dem Gazastreifen ausreisen zu lassen. Über genau diese Option wird aktuell intensiv verhandelt. Ein Punkt sei dabei entscheidend, so Peter Neumann: „Ägypten fürchtet, dass Israel, wenn die Palästinenser einmal in Ägypten sind, die Grenzen nicht mehr aufmacht.“ Es brauche daher eine glaubhafte Versicherung Israels, dass alle Palästinenser zurück in den Gazastreifen dürfen, um Ägypten zu einer Grenzöffnung zu bewegen.
Was folgt nach einer israelischen Bodenoffensive?
Eine entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, was nach ihrem Ende passieren soll. „Das ist das große Dilemma. Was folgt am Tag, nachdem man die Hamas zerstörte bzw. entmachtete? Wer stabilisiert dann den Gazastreifen“, spricht Wyss zentrale Fragen an. Neumann hält es für möglich, dass geplant ist, eine Regierung durch die palästinensische Autonomiebehörde aufzuziehen. Ob das gelingen könne, sei jedoch nicht sicher. „Hamas ist sehr tief in den Gazastreifen verwoben“, betont der Terrorismusexperte. Sie sei nicht nur eine Terrororganisation, sondern auch eine religiöse Bewegung, eine politische Partei und eben die Regierung. Das durch eine andere Organisation zu ersetzen, sei alles andere als einfach. „Hätte man bis vorletzte Woche einen israelischen General oder Geheimdienstler gefragt, ob das möglich ist, hätte der gesagt, dass das nicht erreichbar ist. Jetzt hat sich die Risikobereitschaft Israels geändert, aber die Bedingungen im Gazastreifen haben sich grundsätzlich nicht geändert“, betont Neumann.