Jochen Ott, SPD-Oppositionsführer im Landtag, spricht im Interview über sexuellen Verrohung von Jugendlichen, seinen Ruf nach einer Strafrechtsreform und zu Versäumnissen in der Migrationspolitik.
Interview mit Jochen Ott„Wir sehen im Bereich der sexualisierten Gewalt eine besorgniserregende Entwicklung“
Jochen Ott hat sich einen kleinen Grill zugelegt. Der neue SPD-Oppositionsführer führt Gäste gerne auf die Rheinblick-Terrasse seines Landtagsbüros und serviert dazu Currywurst. Da ist der 49-jährige Kölner ganz geselliger Rheinländer.
Beim Besuch von Tobias Blasius und Matthias Korfmann gab es nur Kaffee und Wasser. Zu besprechen war schließlich ein bedrückendes Thema: die zunehmende sexuelle Gewalt unter Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen und die Belastungen der Flüchtlingskrise.
Herr Ott, zuletzt wirkten Sie aufgewühlt wegen eines mutmaßlichen sexuellen Übergriffs einer jungen Männergruppe auf eine 13-Jährige in einem Schwimmbad Ihrer Heimatstadt Köln. Gerät gerade etwas gesellschaftlich ins Rutschen?
Wir sehen im Bereich der sexualisierten Gewalt eine besorgniserregende Entwicklung. 2021 waren fast 40 Prozent aller Tatverdächtigen in diesem Deliktfeld unter 21 Jahre alt, davon allein die Hälfte im jugendlichen Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Die Schulpolitik in Nordrhein-Westfalen kann das nicht länger ignorieren. Wo, wenn nicht in der Schule, wollen wir auf diese Entwicklung reagieren?
Wie wollen Sie gegensteuern?
Ich fordere die schwarz-grünen Regierungsfraktionen zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung auf, um der psycho-sozialen Entwicklung von Kindern an Schulen endlich mehr Aufmerksamkeit und Raum zu geben. Wir als SPD im Landtag haben dazu bereits vor einem Jahr einen Antrag auf den Weg gebracht, den Schwarz-Grün erst kürzlich leider abgelehnt hat, nachdem wir das ganze Jahr darüber diskutiert und jede Kooperationsbereitschaft signalisiert haben. Der Umgang mit sexueller Gewalt bei Heranwachsenden ist doch keine parteipolitische Frage.
Sie sind selbst Lehrer und haben jahrelang vor Schulklassen gestanden: Sexuelle Verrohung als neuer Jugendtrend?
Kein Trend, aber eine zunehmende Gefahr, der meine Generation in dieser Form noch gar nicht ausgesetzt war. Die Einsamkeitserfahrungen während der Corona-Pandemie, die Dominanz des Handys im kindlichen Alltag, die schlimmen Beleidigungen in Schüler-Chatgruppen, vor allem die Verfügbarkeit von Internet-Pornografie rund um die Uhr – all das hat doch etwas gemacht mit der seelischen Gesundheit von Heranwachsenden.
Was fordern Sie konkret?
Wir brauchen Präventionsprogramme, damit Heranwachsende die harten Bilder und gewaltsamen Szenen, denen sie heute ausgesetzt sind, überhaupt einordnen können. Die drohende sexuelle Verrohung ist ein Thema, über das man vielleicht nicht so gerne spricht, das aber immer wichtiger wird. Es gibt zwar eine Hilfs- und Beratungsinfrastruktur in vielen Städten, die aber noch nicht gut genug mit den Schulen vernetzt ist. Da müssen wir ran. Und neben Prävention ist natürlich auch Repression wichtig.
Härtere Strafen?
Bei Massenschlägereien ist allein die Anwesenheit an einer solchen Auseinandersetzung strafbar. Selbst wenn man nur zuschaut oder verbal anheizt, kann man als Täter dafür belangt werden. Wir als SPD im NRW-Landtag wollen, dass das bei einer Gruppenvergewaltigung künftig genauso ist und sehen rechtlichen Handlungsbedarf.
Es kann nicht sein, dass nur derjenige als Täter gilt, dem der Übergriff individuell nachgewiesen werden kann - was juristisch oft schwer genug ist. Schon wer dabei ist, wenn jemand sexuell bedrängt wird, soll die volle Härte des Rechtstaats spüren und damit rechnen müssen, auch als Täter bestraft zu werden.
Handelt es sich nicht bloß um Einzelfälle, die keine Strafrechtsreform rechtfertigen?
Laut Bundesregierung ist in Nordrhein-Westfalen die Zahl der Gruppenvergewaltigungen zwischen 2018 und 2022 von rund 150 auf fast 250 Fälle gestiegen. Wir fordern die Landesregierung auf, mit einer Bundesratsinitiative eine Änderung des Strafrechts anzuschieben, damit jedem klar ist: Wer irgendwie dabei ist, macht sich als Täter mitschuldig.
Nach dem Schwimmbad-Vorfall in Köln wurde auch der Migrationshintergrund der jungen Männer thematisiert. Muss man das nicht noch klarer benennen?
Ich habe kurz nach dem Vorfall klargestellt, dass solch ein Verhalten bei uns keinen Platz hat. Das Problem der sexuellen Gewalt in Gruppen ist aber kein Migrationsproblem, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Genauso entschieden sage ich: Unsere Gesetze und Werte gelten für alle, da gibt es keinen kulturellen Rabatt.
Die Skepsis gegenüber der Migrationspolitik insgesamt nimmt zu. Bereitet es Ihnen Sorge, dass die Stimmung im Land zu kippen droht?
Die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen geht rechten Hetzern nicht auf den Leim und ist bereit, Menschen in Not zu helfen. Neben all den Fragen, die nur auf Bundes- und EU-Ebene beantwortet werden können und zu denen Olaf Scholz Klartext gesprochen hat, muss in NRW die Unterbringung von Flüchtlingen endlich besser organisiert werden.
Die Landesregierung schafft es seit einem Jahr nicht einmal, die versprochene Zahl an Landesunterkünften zu schaffen. Die jetzt zugesagten 3000 zusätzlichen Plätze reichen doch hinten und vorne nicht, zumal uns die Landesregierung diese Plätze eben schon seit fast einem Jahr verspricht. Die Kommunen fordern insgesamt übrigens 70.000 Plätze. Und wenn Einrichtungen dann kommen, dann ist das von der Landesregierung oft miserabel vorbereitet und kommuniziert.
Wie würden Sie denn die Akzeptanz von Flüchtlingsheimen erhöhen, die ja keiner in der Nachbarschaft haben will?
Die Akzeptanz für Landesunterkünfte wächst, wenn die Nachbarn sehen, dass die Geflüchteten sich einbringen im Ort und nicht den ganzen Tag zum Rumsitzen verdammt sind. Integration funktioniert immer auch über Arbeit. Gerade im Ruhrgebiet weiß man doch: IGBCE und IG Metall sind die größten Integrationsagenturen seit mehr als 150 Jahren.
Ich kenne lokale Beschäftigungsprojekte, da sind Flüchtlinge regelrecht dankbar, wenn sie in der Wäscherei des Sozialverbandes aushelfen oder bei der städtischen Grünanlagenpflege anpacken dürfen. Es gibt einen riesigen Bedarf auch im Niedriglohnbereich, da wäre man froh um jede helfende Hand.
Hier sollten Bund und Landesregierung den Kommunen im Rahmen des Deutschlandpakts eine Experimentierklausel eröffnen, die dazu ermuntert, alle rechtlichen Möglichkeiten zur Beschäftigung von Flüchtlingen zu nutzen – und zwar unabhängig vom Stand der Asylverfahren, die übrigens massiv beschleunigt werden müssen. Wir müssen weg von Fehlervermeidung und Formulardenken, die pragmatische Lösungen vor Ort nur behindern.
Gelernter Lehrer
Jochen Ott (49) setzte sich Ende Mai in einer Kampfabstimmung um den Vorsitz der SPD-Landtagsfraktion durch. Der Vater von drei Töchtern ist seit 2010 Landtagsmitglied und hat sich vorher in der Kölner Kommunalpolitik engagiert. Der Oberstudienrat hat jahrelang an einer Gesamtschule die Fächer Geschichte, Sozialwissenschaften und katholische Religion unterrichtet.