Kölns Sozialdezernent Harald Rau stimmt die Bürgerschaft auf eine neue Flüchtlingskrise ein — bis zu 200 Geflüchtete pro Woche, die Reserven sind aufgebraucht.
Kölns Sozialdezernent im Interview„Jetzt wird die Flüchtlingskrise in Köln spürbar“
Kommt im Herbst eine neue Flüchtlingskrise auf Köln zu?
Wir haben schon jetzt eine ganz untypische, besondere Zahlenentwicklung, obwohl wir noch warmes Wetter haben. Pro Woche suchen zurzeit zwischen 100 und 200 geflüchtete Menschen Köln direkt auf. Hinzu kommen Menschen, die das Land NRW zuweist. Dazu muss man wissen: Bis jetzt war Köln ein sogenannter Übererfüller. Wir haben mehr Menschen aufgenommen, als wir im Landesvergleich hätten aufnehmen müssen. Daher war es bis jetzt so, dass wir aus den Landeseinrichtungen keine Zuweisungen bekommen haben. Im Gegenteil: Wir konnten nach Köln Geflüchtete teilweise in die Landeseinrichtungen weiterverweisen. Das ist seit vergangener Woche nicht mehr so. Denn im Land haben die Kommunen teils so viele Geflüchtete aufgenommen, dass wir in Relation unter unseren Erfüllungsschlüssel gerutscht sind. Die Konsequenz: Ab jetzt bekommen wir zu den Menschen, die direkt nach Köln geflüchtet sind, weitere Geflüchtete aus den Landeseinrichtungen zugewiesen.
Köln kann nicht sagen, wir können nicht mehr aufnehmen?
Wir müssen per Gesetz für jeden Menschen, egal wo er herkommt, die Gefahr der Obdachlosigkeit abwehren. Das heißt, wir sind verpflichtet, jeden Menschen hier unterzubringen.
Wie viele kamen im vergangenen Frühjahr?
Im Schnitt waren das weniger als 50 Menschen in der Woche. Wir haben jetzt wirklich eine andere Dimension erreicht.
Aus welchen Ländern kommen die Menschen?
Die allermeisten kommen aus dem Westbalkan, allen voran Albanien und Nordmazedonien.
Das sind sichere Herkunftsländer.
Genau. Die Menschen, die von dort kommen, haben in der Regel so gut wie keine Chance auf Asyl. Sie stellen auch zumeist gar keinen Asylantrag. Sie kommen ohne Visum nach Köln und dürfen sich hier eigentlich nur aufhalten, wenn sie ihren Lebensunterhalt selber bestreiten können. Die Zuwanderung aus dem Balkan nach Deutschland ist zurzeit generell ansteigend. In Köln nimmt sie gerade aber ganz besonders zu.
Warum werden sie nicht ausgewiesen?
Die Zahl der erfolgreichen Zurückführungen ist im Verhältnis zu der Zahl der nach Köln kommenden vernachlässigbar. Die Hoffnung, dass durch Rückführungen Plätze frei werden, die wir für andere Menschen brauchen, trägt nicht.
Gibt es keine Rückreisen?
Die Situation in diesem Jahr weicht von den Fluchtbewegungen in den Vorjahren ab. Üblicherweise steigt die Zuwanderung im Herbst zwar stark an, aber in der Regel erfolgen im Frühjahr auch wieder Rückreisen. Wenn es wieder warm wird, gehen viele wieder in ihre Heimatländer. Aber das hat dieses Jahr so nicht mehr stattgefunden, jedenfalls nicht mehr in einem nennenswerten Bereich. Im vergangenen Winter hat also wie erwartet Zuwanderung stattgefunden, aber im Frühjahr gab es kaum Abwanderung. Auf das dadurch bereits erhöhte Niveau kommt nun die Entwicklung der vergangenen Wochen.
Haben sie Platz zur Unterbringung?
Die vom Stadtrat vorgegebene Reserve von 1500 Plätzen ist jetzt schon aufgebraucht.
Wo bringen Sie die Menschen dann unter?
Wir müssen verdichten, schauen, wo wir noch ein Bett dazustellen können. Zusätzlich arbeiten wir fortlaufend daran, neue Plätze zu schaffen, um Menschen unterbringen zu können.
Zahlen
11.205 Geflüchtete befinden sich zurzeit in Köln. In der Flüchtlingskrise 2014/15 waren es in der Spitze rund 15.000 Geflüchtete. Sozialdezernent Harald Rau rechnet damit, dass diese Zahl nun übertroffen wird. Die Verteilung der Geflüchteten in städtischen Unterkünften nach Herkunftsländern auf dem Stand vom 30. Juni. 2023:
- 33 Prozent Westbalkanstaaten
- 27 Prozent Ukraine
- 16 Prozent naher Osten
- 5 Prozent Afrikanische Länder
- 2 Prozent Russische Föderation.
Also können wir jetzt schon von Flüchtlingskrise sprechen?
Ja. Bisher hat die Kölner Bevölkerung nach meinem Gefühl diese Entwicklung noch nicht sonderlich gespürt. Wenn wir aber jetzt wieder große Unterkünfte schaffen – für 300, 400, 500 Menschen – dann wird die Krise in der Bevölkerung spürbar.
Wie steht es um die Pläne für die ehemalige Oberfinanzdirektion?
Wie mir gerade vom Land mitgeteilt wurde, ist der Beschluss gefallen, dass das Gebäude der Oberfinanzdirektion in der Riehler Straße für die Unterbringung von geflüchteten Menschen hergerichtet wird. Das wird sicherlich noch ein paar Monate dauern, aber in diesem Gebäude werden 500 Plätze für die Erstunterbringung geschaffen.
Und für Porz/Lind?
Noch liegt mir dafür keine Bestätigung vor, aber ich gehe sehr davon aus, dass auch das realisiert wird.
Inwieweit helfen diese Unterkünfte bei dieser Krise?
Jeder Platz hilft. Bei den beiden Landesunterkünften ist es so, dass sie uns zwar auf den Verteilschlüssel angerechnet werden, aber sie entlasten die städtischen Unterkünfte nicht bezüglich der Menschen, die ohne eine Landeszuweisung direkt nach Köln kommen. Die 500 Plätze in der Oberfinanzdirektion und die zu erwartenden 500 Plätze in Porz/Lind schaffen uns keinen einzigen Platz, um Menschen unterzubringen, die unmittelbar zu uns kommen. Darum sind wir gerade mit viel Energie dabei, städtische Unterkünfte zu realisieren, um sie schnellstmöglich zu belegen. Das werden große Unterkünfte sein und es wird zeitnah erfolgen. Ich gehe davon aus, dass wir bereits in der kommenden Woche Standorte benennen können. Ich hoffe, dass wir so schnell handeln können, wie wir Plätze brauchen. Noch kann ich es aber nicht absehen.
Was werden das für Unterkünfte sein: Doch wieder Turnhallen?
Wir planen derzeit nicht mit Turnhallen. Wir schauen auf möglichst große Flächen, auf die wir möglichst viele Container stellen können. Wobei ich dazu sagen muss: Ganz Deutschland braucht gerade wieder Container. Das wird anspruchsvoll. Für einen ins Auge gefassten Standort haben wir ein Container-Angebot. Wir sind zuversichtlich, dass wir diesen Standort noch in diesem Jahr nutzen können.
Die Messe in Deutz kommt nicht mehr in Betracht?
Wir sind mit der Messe in engem Austausch. Bisher haben wir kein Angebot bekommen, mit der Begründung, dass die Messe wieder ein volles Programm hat – anders als damals in der Corona-Pandemie.
Und Hotels?
Wenn wir Hotelplätze für Geflüchtete buchen, wollen wir die langfristig buchen. Es nutzt uns ja nichts, wenn wir 2000 Menschen in Hotels unterbringen, die aber nach wenigen Monaten wieder raus müssen. Jetzt kommt aber die Fußballeuropameisterschaft 2024. Die ist natürlich für das Hotelgewerbe interessant. Darum haben wir Angebote aus dem Hotelgewerbe für Nutzungen bis Ende Januar. Das hilft uns aktuell nicht weiter.
Da wird es bürgerliches Engagement brauchen.
Wir haben weiterhin viel ehrenamtliches Engagement in rund 50 Initiativen. Wenngleich es weniger Ehrenamtliche insgesamt gibt. Ich bin aber voller Hoffnung, dass sich wieder mehr Menschen einbringen, wenn die Not nun größer wird. Wir werden diese Krise nur mit gesamtgesellschaftlichen Engagement bewältigen. Wir brauchen uns da jetzt alle.
Haben Sie Sorge, dass die Stimmung kippen könnte?
Ich habe die Hoffnung, wenn eine Stadt es gemeinschaftlich bewältigen kann, dann ist es Köln. Wir haben bewiesen, dass wir Aufnahme und Integration gut können. Diese Stärke brauchen wir nun wieder.
Wird der Zustrom auch wieder abschwellen?
Wir wissen gerade alle nicht, wie sich die Kriegsgebiete entwickeln, was noch an klimabedingter Migration zu erwarten ist. Es wäre geradezu fahrlässig, jetzt zu prognostizieren, es gibt ab Februar wieder viele Zurückkehrende. Ich glaube, es ist realistischer, dass wir uns auf eine anhaltend hohe Zahl einstellen.
Gibt es bei den Flüchtlingsströmen gar einen Fokus auf Köln?
Köln ist in NRW und sogar innerhalb Deutschlands bei Menschen, die hier ankommen, bekannt. Berlin ist bei dieser Entwicklung sicherlich führend, aber schnell danach kommt schon Köln. Köln hatte schon immer verschiedenste kulturelle Communitys und ist über diese Communitys weltweit vernetzt. In gewisser Weise zeichnet das unsere Stadt ja auch aus.
Ein Faktor bei dieser Krise werden die Kosten sein. Können Sie die beziffern?
Geld wird gerade in vielen Bereichen immer knapper und der Bedarf immer größer. Von daher spielt das Geld natürlich eine Rolle. Aber ich sage auch: Bei der Notwendigkeit, Unterkünfte zu schaffen, sind wir gerade nicht vorrangig mit Finanzierungsfragen beschäftigt. Wir signalisieren aber unter anderem über den Deutschen Städtetag an Land und Bund: Bezahlt das, was wir leisten. Gerade für die Menschen, die direkt nach Köln kommen, müssen die Kommunen so lange vollumfänglich zahlen, bis über ihren endgültigen Status entschieden worden ist.