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Interview mit Militärökonom„Der langfristige Schaden für Russland ist immens“

Lesezeit 7 Minuten
Panzer Ukraine (1)

Eine große Armee stößt an ihre Grenzen: Zerstörter russischer Panzer des Modells T-72 nahe Kiew.  

  1. Was kann Russland im Ukraine-Krieg erreichen, und welche wirtschaftlichen Folgen hat er für das Land?
  2. Raimund Neuß fragte den Militärökonomen Marcus Matthias Keupp.

Der russische Generalstab hat am letzten Freitag angekündigt, man gehe jetzt in die zweite Phase der sogenannten Sonderoperation und konzentriere sich auf die Befreiung des Donbass. Eine Finte – oder steht dahinter die Erkenntnis, dass man nicht genug Ressourcen hat, um die ganze Ukraine zu unterwerfen?

Es ist sicher keine Finte, sondern das Eingeständnis, dass man an der nördlichen und nordöstlichen Front nicht wirklich weiterkommt. Es ist wie in der Wirtschaft: Wenn sich der Geschäftsführer mit sehr ambitionierten Zielen aus dem Fenster lehnt und sie nicht erreicht, dann kann er das entweder so zugeben, oder er kann behaupten, das eigentliche Ziel sei doch eigentlich etwas anderes gewesen. An der Südostfront stehen die Russen am besten da, sie haben die geringsten Probleme mit einer feindlich gesinnten Zivilbevölkerung, und sie können am leichtesten Nachschub heranführen. Zudem steht ein Großteil des östlichen ukrainischen Korps dort, und die Russen versuchen es einzukesseln. Das wäre allerdings auch im logistischen Sinne eine Riesenoperation, und wenn man sieht, dass die Russen schon bei der einfachen Treibstofflogistik riesige Probleme haben, dann ist es sehr die Frage, ob die russische Armee den Ukrainern den Rückzug wirklich abschneiden kann.

Zur Person

Dr. Marcus Matthias Keupp

Dr. Marcus Matthias Keupp ist Dozent für Militärökonomie der Militärakademie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Keupp hat in Mannheim und an der Warwick Business School (Coventry/London) studiert und sich nach seiner Promotion in St. Gallen dort auch 2013 habilitiert. (rn)

Warum hat die russische Armee so große Probleme?

Die russische Kampfführung war auf die Art der Kriegsführung, wie sie jetzt nötig wäre, nicht eingestellt. Russland strebte einen schnellen Enthauptungsschlag an, wollte die Regierung in Kiew stürzen und ein Marionettenregime installieren, aber auf keinen Fall im ganzen Land großflächig Krieg führen, es besetzen und sich mit einer feindlichen Zivilbevölkerung auseinandersetzen. Wenn Sie so etwas aber tun müssen, wird der Krieg eine Frage der Logistik. Am Anfang hat jeder gesagt, die Ukraine kann das nicht gewinnen, die Russen haben so viel mehr Waffensysteme. Das war ein großer Fehler. Nicht der gewinnt, der mehr Systeme hat, sondern der, die seine Systeme besser versorgen kann, der sich besser bewegen kann. Dabei geht es vor allem um Treibstoff, und das ist die Ironie dieses Krieges: Russland, der zweitgrößte Ölproduzent der Welt, schafft es nicht, genug Treibstoff ins Kriegsgebiet zu bringen, um seine Truppen zu mobil zu halten. Dazu kommt, dass die russische Kampfführung sehr zentralistisch ist, Befehle werden von oben nach unten durchgegeben. Das funktioniert auch super, solange alles so läuft, wie der Generalstab sich das vorstellt. Wenn es aber wie jetzt nicht nach Plan läuft, müsste man auf Auftragstaktik setzen, also Befehlshaber vor Ort entscheiden lassen. Das beherrschen russische Offiziere nicht, die Ukrainer machen es sehr gekonnt – gerade auch um die Logistik der Russen zu unterbrechen.

Es gibt offensichtlich viele russische Gefallene und Verwundete – aber warum fällt es einer Armee mit 850 000 Soldaten so schwer, diese Verluste zu ersetzen?

Was auf dem Papier steht, hat nichts mit der eigentlichen Kampfkraft zu tun. Es geht ja nicht um die Zahl, sondern um die militärischen Fähigkeiten. Da wurden Wehrpflichtige in den Krieg geschickt und Soldaten, die gar nicht wussten, was sie da tun sollten. Jetzt höre ich aus Russland, man versuche Truppen aus Georgien in die Ukraine zu verlegen. Keine geringe logistische Herausforderung, aber diese Truppen haben wenigstens Kampferfahrung. Man kann aber nicht einfach sagen, wir verschieben die, und dann gewinnen wir den Krieg.

Überfordert sich Russland? An wie vielen Fronten kann es gleichzeitig kämpfen?

Überdehnung wird ein Problem werden, je länger der Krieg dauert. Man darf Russland nicht unterschätzen, der militärisch-industrielle Komplex ist riesig und gerade bei einfachen Systemen relativ autark. In der Ukraine wird ja nicht gerade High-Tech eingesetzt. Aber die Frage ist, ob diese Rüstungsindustrie darauf eingestellt ist, schnell genug zu produzieren und den Nachschub dann auch ins Kriegsgebiete zu befördern. Und die andere Frage ist: Im Moment wittern viele Morgenluft, etwa die weißrussische Opposition im Exil. Die ist sehr aktiv und überlegt, es könnte doch Zeit für einen Regimewechsel sein. Das sehen sie auch in anderen Ecken. Wenn Russland einen Großteil seiner Reserven abziehen würde – rein hypothetisch –, dann könnte es auch dort losgehen.

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Wie lange kann die Ukraine durchhalten?

Relativ lange, wenn sie so weiterkämpft wie jetzt: dezentral, taktisch mit leichten Waffen, keine großen Feldschlachten, sondern Nadelstiche. So eine partisanenhafte Kriegsführung kann man lange durchhalten. Das ist weder besonders schwierig noch besonders teuer. Das hat sich auch nach der sowjetischen Afghanistan-Invasion 1979 gezeigt: Die Überlegenheit bei schwerem Material ist die eine Sache – aber ob Sie damit den Krieg gewinnen, ist noch lange nicht klar.

Wenn die russische Rüstungsindustrie ein autonomes Gebilde ist – was können dann Sanktionen bewirken?

Die Rüstungsindustrie ist in der Tat finanziell autark, es gibt sogar eine eigene staatliche Bank, die nur diese Branche finanziert. Abgesehen von High-Tech-System, wo man Importe von Spitzentechnologie braucht, versorgt sie sich aus dem Land selbst. Selbst wenn der Westen seine Öl- und Gasimporte stoppen sollte und damit ein Großteil des russischen Staatshaushalts wegbräche, dann hieße das nur eine Rückkehr zu sowjetischen Verhältnissen: Ein Großteil des verbleibenden Budgets geht in die Rüstung, und um die Bevölkerung ruhig zu halten, werden die Grundnahrungsmittel subventioniert. Der Krieg könnte weitergehen.

Sind dann Sanktionen und der Ausstieg aus russischen Gas-, Kohle- und Öllieferungen sinnlos?

Keineswegs. Das wird zu einem langfristigen Umbau der Weltenergiewirtschaft beitragen – man sieht ja jetzt sehr deutlich, was passiert, wenn man sich von einem einzigen Lieferanten abhängig macht. Die Sanktionen werden zum Technologiewechsel, zur Dekarbonisierung der Wirtschaft beitragen. Aber sie werden nicht den Krieg beenden. Denn sie können gar nicht auf den militärisch-industriellen Komplex zielen, sie zielen auf die Banken und die allgemeine Volkswirtschaft. Wir haben es hier mit einem östlichen autoritären System zu tun, und wenn das die Wahl hat zwischen Ruhm und Ehre oder Wohlstand der Bevölkerung, dann ist klar, wie die Entscheidung ausfällt. Das hat die ganze Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion gezeigt.

Wenn man sich die scharfen Töne von US-Präsident Joe Biden gegen Wladimir Putin anhört – wie sollte er dann auch für rationale ökonomische Argumente zugänglich sein?

Ich glaube auch so nicht, dass Putin an so etwas denken würde. Es gibt in Russland zwei Lager, die Liberalen, zu denen die Zentralbankpräsidentin Elwira Nabiullina. Solche Leute wollen das Wirtschaftssystem öffnen. Aber Putin steht auf der anderen Seite, er gehört zu den Silowiki, zu den Leuten, die aus dem Geheimdienst FSB oder seinem Vorgänger KGB hervorgegangen sind. Denen ist so etwas wie volkswirtschaftlicher Wohlstand, Effizienz, Versorgung der Zivilbevölkerung egal.

Müssten die Silowiki nicht an die Geschichte der Sowjetunion denken, die am Ende wirtschaftlich zusammenbrach?

Das wäre die größte Ironie der Geschichte überhaupt, wenn sich die totale Aushöhlung der Ökonomie wiederholen würde, wie wir sie in den Jahren 1986 bis 1989 in der Sowjetunion gesehen haben. Aber ich glaube nicht, dass dieses Argument bei diesen Leuten wirkt. Man muss länger warten. Wir sehen ja, dass die Sanktionen wirken. Die russische Wirtschaft beginnt sich zurückzuentwickeln, die urbanen Mittelschichten verlassen das Land.

Was wird dann aus Russland – egal wie der Krieg ausgeht?

Russland wird seinen staatlichen Wohlfahrtsfonds plündern, bis er leer ist. Es wird wahrscheinlich die Banken verstaatlichen und zurückgehen zu einem System, in dem der Staat die Ressourcen an die verteilt, die die Herrschaft der Eliten stützen. Das ist teilweise heute schon so und wird sich verstärken. Von Effizienz und Innovation muss man sich verabschieden. Derzeit steht Russland in Branchen wie IT im internationalen Wettbewerb sehr gut da, aber das wird sich alles abbauen. Der langfristige Schaden dieses Krieges für Russland ist immens.