Flüchtlingsbeauftragte im Interview„Wir ermögllichen jetzt Integration von Anfang an“
Berlin – Der Ukraine-Krieg habe schon mehr als 300.000 Menschen zur Flucht nach Deutschland getrieben, sagt Integrationsstaatsministerin Reem Alabali-Radovan (31, SPD) im Interview mit Tobias Schmidt. Schockiert ist die Schwerinerin über „Meldungen über beunruhigende, auch frauenverachtende sogenannte Hilfsangebote von Kriminellen“. Stößt Deutschland womöglich schon bald an Kapazitätsgrenzen?
Frau Staatsministerin, warum hat der Staat so lange gebraucht, um Verteilung und Unterbringung der Menschen, die aus der Ukraine zu uns flüchten, zu organisieren?
Weil die ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die visumsfrei nach Deutschland kommen, sich nicht registrieren lassen müssen. Die Alternative wären Grenzkontrollen, die hat man aus guten Gründen auch innerhalb der EU abgelehnt. Es kommen vorwiegend Frauen mit ihren Kindern und ältere Menschen. Ich finde es richtig, dass wir sie nicht an der Grenze kontrollieren. Alle Beteiligten sind seit Tag eins rund um die Uhr im Einsatz. Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist seit dem ersten Tag im engen Austausch mit ihren Länderkolleginnen und -kollegen, ich bin es ebenfalls.
Alle arbeiten unter Hochdruck, damit diese nationale Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen gelingt. Bislang sind mehr als 300.000 Geflüchtete angekommen. Viele kommen in Berlin an, hier hilft der Bund – wie in allen 16 Ländern – mit der Bundeswehr, der Bundespolizei, mit Technischem Hilfswerk, mit Registrierung. Es ist herausragend, wie stark die Ehrenamtlichen und Hilfsorganisationen gemeinsam anpacken.
Berlin war wochenlang heillos überfordert. Warum wurden die Neuankömmlinge nicht schneller bundesweit verteilt?
Ukrainische Staatsangehörige mit biometrischem Pass dürfen sich 90 Tage lang frei in Deutschland und der EU bewegen und damit aufhalten, wo sie möchten. In den ersten Tagen des Krieges sind vor allem diejenigen gekommen, die Verwandte und Freunde hier haben. Sie einfach irgendwohin zu verteilen wäre weder möglich noch sinnvoll gewesen. Inzwischen haben viele kein konkretes Ziel mehr, sie suchen einfach eine sichere Zuflucht.
Zur Person
Reem Alabali-Radovan ist das Kind irakischer Eltern und wurde 1990 in Moskau geboren. Erst sechs Jahre später kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. 2020 wurde sie Integrationsbeauftragte des Landes Mecklenburg-Vorpommern, bei der Bundestagswahl 2021 errang die Politikwissenschaftlerin ein Direktmandat in Nordwestmecklenburg. Der neue Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) holte sie anschließend als „Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration“ ins Kanzleramt. Die Sozialdemokratin trat die Nachfolge von Annette Widmann-Mauz (CDU) an. (dpa)
Darum ist es richtig, sie in ganz Deutschland unterzubringen, damit kein Landkreis, keine Stadt überlastet wird. Seit dem 17. März läuft dieses Verfahren, und das klappt von Tag zu Tag besser. Bund und Länder organisieren auch mit Sonderzügen und Bussen die Verteilung. Neben Berlin sind in Hannover und Cottbus zwei weitere Drehkreuze eingerichtet.
Es kommen täglich mehr. Stößt Deutschland womöglich schon bald an Kapazitätsgrenzen, wird dann wieder über eine Obergrenze gestritten?
Die meisten Menschen sind nach Polen geflohen, bereits mehr als zwei Millionen Menschen. Für uns ist klar, dass wir unseren osteuropäischen Nachbarn helfen. Wir nehmen alle aus der Ukraine auf, die vor den grausamen Bombenangriffen bei uns Schutz suchen. Wichtig ist aber auch, dass wir über eine europaweite Verteilung sprechen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir diesmal in Europa gemeinsam solidarischer sind als in den letzten Jahren.
Gleichwohl: Kommunen und Länder fürchten, an ihre Kapazitätsgrenzen zu gelangen, rufen laut nach finanzieller Unterstützung vom Bund…
Es steht außer Frage, dass der Bund die Länder und Kommunen unterstützt, auch finanziell. Bund und Länder haben sich sehr schnell über die Verteilung, Aufnahme und Registrierung der Geflüchteten verständigt und vereinbart, bis zum 7. April, bei der nächsten Konferenz des Bundeskanzlers mit den 16 Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, einen Vorschlag zu den Finanzierungsfragen zu machen.
Wie groß ist die Gefahr gerade von geflüchteten Frauen, von vermeintlichen Helfern ausgebeutet, ja missbraucht zu werden?
Der Gedanke ist schrecklich, dass Frauen und Kinder in die Hände von Kriminellen gelangen könnten. Die Polizeien von Bund und Ländern sind massiv an Bahnhöfen und Busstationen präsent – auch in Zivil – um die Gefahr zu bannen. Zudem arbeitet die Koordinierungsstelle gegen Menschenhandel im Bundesfamilienministerium daran, für maximalen Schutz zu sorgen.
Sämtliche Hilfsangebote für Frauen sind auch in ukrainischer Sprache verfügbar, darüber wird aktiv vor Ort informiert. Es liegen einzelne Meldungen über beunruhigende, auch frauenverachtende „Hilfsangebote“ vor, unsere Sicherheitsbehörden gehen konsequent jedem Hinweis nach, verfolgen jeden Anfangsverdacht.
Worauf kommt es jetzt an, um die Menschen zügig zu integrieren?
Alle Geflüchteten aus der Ukraine können einen Aufenthaltstitel nach §24 Aufenthaltsgesetz erhalten. Damit dürfen sie sofort arbeiten, haben Zugang zu Integrationskursen, Krankenschutz und die Kinder können in Kita und Schule.
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Anders als 2015 ermöglichen wir jetzt konsequent Integration von Anfang an – ganz egal, wie lange die Menschen hierbleiben werden. Das ist ein gewaltiger Fortschritt.