Migrationsforscher im InterviewWarum Geflüchtete schnell auf den Arbeitsmarkt sollten
- Bald können Geflüchtete aus der Ukraine Hartz IV erhalten.
- Zudem sollen sie leichter Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen.
- Der Migrationsforscher Jochen Oltmer hält das für gut, denn er erwartet, dass viele Ukrainer auch nach Kriegsende in Deutschland bleiben, wie er im interview mit Thomas Ludwig erklärt.
- Welche Folgen hat das?
Herr Oltmer, inzwischen sind fast 400000 Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland registriert. Wie schlagen sich Bund, Länder und Kommunen bislang bei der Bewältigung?
Ganz gut, Deutschland hat recht schnell reagiert. Zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend. Zum einen ist die Massenzustrom-Richtlinie der EU sehr früh in Kraft getreten, sodass es einen Regelungsrahmen gegeben hat. Zum anderen konnte man vom Jahr 2015 profitieren. Diverse Kapazitäten sind damals erheblich ausgebaut worden. Sie stehen weiterhin zur Verfügung. Zudem hat es sehr viele Netzwerke gegeben, die jetzt reaktiviert wurden. Die Kenntnis darüber, wie man effektiv zusammenarbeiten kann, war viel höher als zur Zeit der syrischen Flüchtlinge.
Ab Juni gilt für die Geflüchteten aus der Ukraine nicht mehr das Asylbewerberleistungsgesetz, sondern sie können über die Jobcenter Leistungen nach Sozialgesetzbuch beziehen, also Hartz IV. Ist der Systemwechsel richtig?
Ja, für die Schutzsuchenden aus der Ukraine hat das eine große Bedeutung. Sie erhalten zwar nicht viel mehr Geld, sie sind aber krankenversichert, was für diejenigen, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eingestuft werden, nicht gilt. Zudem ist es gut für die Kommunen. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz wären vor allem die Sozialämter auf den Kosten sitzen geblieben, während mit der Regelung, die jetzt getroffen worden ist, der Bund die Kosten übernimmt.
Die große Mehrheit der Geflüchteten aus der Ukraine gibt an, in die Heimat zurückkehren zu wollen. Macht es vor diesem Hintergrund überhaupt Sinn, die schnellstmögliche Integration der Menschen in die deutsche Gesellschaft zu forcieren?
Der Rückkehrwille ist auch deshalb stark ausgeprägt, weil Verwandte, Bekannte, Teile der Kernfamilie, Stichwort Männer, die Militärdienst zu leisten haben und aus dem Land nicht herauskommen, noch in der Ukraine sind. Aber wir wissen ja nichts über die Kriegsdynamik, womöglich dauert er über Jahre an. Deshalb halte ich es für ganz wichtig, früh über Integrationskurse, Vermittlungsangebote in Richtung auf den Arbeitsmarkt und die Anerkennung von Berufsabschlüssen nachzudenken.
Können Sie das etwas erläutern?
In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren haben wir Menschen mit sogenannten Kettenduldungen über viele Jahre in sehr prekären Situationen gehalten, weil ihnen eben keine Perspektive der Teilhabe geboten wurde. Es kostet wahnsinnig viel öffentliches Geld, Flüchtlinge in diesen prekären Lebenssituationen zu lassen, sie zu versorgen, weil sie vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, und es schafft jede Menge soziale Probleme. Gleichwohl kehren die Betroffenen nicht schneller in die Heimat zurück. Denn trotz schwieriger Lebenslagen bauen sie am Ende doch soziale Bindungen im lokalen Kontext auf.
400000 Geflüchtete
Die Zahl der in Deutschland registrierten Geflüchteten aus der Ukraine hat die Zahl von 400000 überschritten. Dies teilte das Bundesinnenministerium am Dienstag im Kurzbotschaftendienst Twitter unter Berufung auf die Bundespolizei mit. Die Zahl lag demnach bei 400632. „Überwiegend sind es Frauen, Kinder und alte Menschen“, erklärte das Ministerium. Weil nicht alle Menschen aus der Ukraine in Deutschland registriert sind, dürfte die tatsächliche Zahl deutlich höher liegen.
Die Zahl der an Schulen in Deutschland aufgenommenen Flüchtlinge aus der Ukraine ist weiter gestiegen. In der Woche vom 25. April bis zum 1. Mai wurden insgesamt 91572 Kinder und Jugendliche an allgemein- und berufsbildenden Schulen aufgenommen, wie die Kultusministerkonferenz mitteilte. Im Vergleich zur Vorwoche seien dies 26.330 Neuzugänge aus der Ukraine (afp)
Deutschland muss sich also darauf einstellen, dass viele ukrainische Flüchtlinge auf Dauer hierbleiben?
Zumindest bei einem Teil wird das der Fall sein. Wenn so eine Konstellation, wie wir sie heute haben, über sehr viele Jahre läuft, bauen die Menschen zunehmend stärkere soziale Bindungen auf. Dass der Wille zur Rückkehr dann bei vielen nicht mehr so stark ausgeprägt sein wird, damit muss man rechnen. Je nach Ausgang des Krieges, kommen dann vielleicht auch die Männer nach Deutschland, die jetzt noch in der Ukraine kämpfen.
Könnte die Hilfsbereitschaft umschlagen, zum Beispiel, wenn die Flüchtlinge langfristig bleiben und es um knappen Wohnraum geht?
Eine Ernüchterung der Bürger ist natürlich nicht ausgeschlossen. Noch sind zum Beispiel die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs für die Bundesrepublik nicht absehbar. Wenn sich die wirtschaftliche Situation aber – vielleicht sogar deutlich – verschlechtert und gleichzeitig die Zahl Geflüchteter noch zunimmt, könnte es tatsächlich zu einem solchen Kipppunkt kommen. Wir können uns also nicht sicher sein, dass die derzeit sehr positive Stimmung stabil bleibt. Man denke an die 1990er-Jahre. Damals hat es infolge des postjugoslawischen Kriegs bzw. Bürgerkriegs eine starke Zuwanderung in die Bundesrepublik gegeben.
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Gleichzeitig war die Erwerbslosigkeit hoch, die wirtschaftliche Lage wurde von vielen Bürgern nach der Wiedervereinigung als problematisch angesehen. Am Ende mussten weit über 90 Prozent der Kriegsflüchtlinge wieder zurückkehren. Nur ein einziges europäisches Land hat damals eine Rückkehrpflicht erklärt, und das war die Bundesrepublik.
Heute ist die Lage aber eine andere?
Die Bürger verstehen den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine auch als Angriff auf Europa, als einen Angriff auf unsere Werte. Das führt zu einem Verständnis für die Notwendigkeit der Aufnahme der Ukrainerinnen und Ukrainer. Und dass wir die Menschen bestmöglich aufnehmen und integrieren sollten, hat noch einen Grund: Am Ende demonstrieren wir so Solidarität gegenüber der Ukraine.