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Sorgen vor dem 9. MaiPlant Putin die große Mobilmachung?

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Russische Flugabwehrraketenwerfer fahren während einer Probe für die Militärparade zum Tag des Sieges in Richtung Roter Platz.

Köln – Plant Russland im Ukraine-Krieg eine Mobilmachung? Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace wäre „nicht überrascht“, wenn der russische Präsident Wladimir Putin am 9. Mai, anlässlich der großen Militärparade zum 77. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland, eine Generalmobilmachung und damit die Einberufung von Reservisten verkünden würde. Was steckt hinter dieser Befürchtung?

Warum halten Experten eine Mobilisierung für möglich?

Die Militärwissenschaftler Jack Watling und Nick Reynolds vom britischen „Royal United Service Institute“ (Rusi) beobachten eine Zuspitzung der Kriegsrhetorik: Patriarch Kiril kündigte an, man werde erneut wie 1945 „das Rückgrat des Faschismus“ brechen, die Staatsagentur Ria-Nowosti bezeichnete große Teile der ukrainischen Bevölkerung als Nazis, Duma-Chef Watscheslaw Nikonow sprach gar von einem „heiligen Krieg“.

Moskau, so Watling und Reynolds, könnte eine Abkehr von der Sprachregelung vorbereiten, nach der in der Ukraine nur eine „Spezialoperation“ laufe. Die russischen Investigativjournalisten Andrej Soldatow und Irina Borogan berichten, die vom Kriegsverlauf frustrierte Militärführung verlange die Mobilisierung und eine massive Eskalation. Gegner sei die Nato, nicht nur die Ukraine. „Kämpfen wir oder masturbieren wir“, fragte Alexander Arutjunow, ein Veteran der Geheimdiensttruppe Speznas, Präsident Wladimir Putin auf Telegram.

Zwischen 175 000 und 190 000 Soldaten hat Russland bisher nach Einschätzung des Kieler Instituts für Sicherheitspolitik in der Ukraine eingesetzt. Davon dürften nach Nato-Angaben 15 000 gefallen sein. Dazu kämen Verwundete, so dass etwa 45 000 russische Soldaten nicht mehr einsetzbar seien. „Das wären zwischen etwa 25 Prozent der Angriffskräfte“, fassen die Kieler Forscher zusammen. Es fällt Russland schwer, diese Lücken zu schließen – teilweise versucht man sogar Ukrainer aus den besetzten Gebieten zum Kriegsdienst zu zwingen.

Bereits Anfang _April hatte Pentagon-Sprecher John Kirby von Berichten über eine mögliche Mobilisierung „Zehntausender Reservisten“ gesprochen. Nominell hat Russland zwei Millionen Reservisten, deren Ausbildung aber zum Teil lange zurückliegt. Daher dürfte die von Kirby genannte Größenordnung im Fall des Falles eher realistisch sein.

Wie ist die Stimmung in der russischen Bevölkerung?

Bisher ist die Bezeichnung „Krieg“ für die „Spezialoperation“ tabu. Das soll die Bevölkerung beruhigen, deshalb scheut Moskau das Einberufen von Reservisten.

Nach Angaben des regimekritischen Portals „Meduza“ hat Wladimir Putin tatsächlich aber ein ganz anderes Problem mit der selbst geschürten militanten Stimmung im Land: Der Kreml habe „Exit-Strategien“ prüfen lassen, aber „kein gutes PR-Szenario“ dafür gefunden. Meduza-Korrespondent Andrej Pertzew bezieht sich auf vertrauliche Meinungsumfragen der russischen Regierung. Der Krieg, der bisher kein Krieg sein soll, müsste demnach weitergehen – koste es, was es wolle. Weniger eindeutig sind Erkenntnisse einer Erhebung in der Stadt Moskau: Während dort unter sehr wohlhabenden Teilnehmern 62 Prozent eine Fortsetzung der „Spezialoperation“ befürworteten, waren es bei Befragten mit mittlerem Einkommen noch 54 Prozent, in den ärmeren Bevölkerungsgruppen aber nur 40 Prozent.

Woher rekrutiert Russland seine Soldaten?

Die Armen werden im Fall einer Mobilisierung wohl den höchsten Blutzoll entrichten. Das lässt ein Blick auf den bisherigen Kriegsverlauf erwarten: Das russische Portal „Mediazone“ hat vergangene Woche 1744 Berichte, etwa Nachrichten oder Erwähnungen in sozialen Netzwerken, über russische Gefallene ausgewertet. „Die meisten der Militärtoten sind sehr junge Menschen aus armen Regionen“, bilanziert „Mediazone“: „Die höchsten Verluste gibt es in zwei Republiken: Dagestan und Burjatien, wo das mittlere Gehalt kaum 20 000 Rubel übersteigt.“ Dagegen würden aus Moskau und St. Petersburg kaum Verluste gemeldet.

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20 000 Rubel monatlich entsprechen 265 Euro. Da bietet der Dienst als Vertragssoldat eine der wenigen Chancen zum Aufstieg. Und hier sind dann auch Reservisten zu finden, deren Dienstzeit nicht zu lange zurückliegt.

Werden auch bestimme Waffen knapp?

Nach Angaben der britischen Experten Watling und Reynolds fehlt es Russland nicht nur an Soldaten, sondern mittlerweile auch an Präzisionswaffen. So setze Russland zunehmend auf alte „Grad“-Raketen, denn das moderne „Iskander“-System brauche man ja auch zur Abschreckung gegenüber der Nato und China. Und es fehle Russland an Teilen für den Neubau solcher Waffen. Der Bordcomputer eines abgestürzter „Iskander“-Marschflugkörpers, den die Autoren untersuchten, habe Leiterplatten aus den USA enthalten. Die Rakete 9M949, „Rückgrat der russischen Artillerie“, verwende US-Sensoren im Navigationssystem, die Luftabwehrrakete Tor-2 setze auf britische Oszillatortechnik. Ähnliches gelte für „Kalibr“-Marschflugkörper und andere Waffen.

Bisher konnte Russland solche auch zivil genutzte Elektronik legal importieren (oft über die Raumfahrtbehörde Rokosmos) – seit Beginn des Ukrainekrieges gilt ein westlicher Exportstopp. Allerdings werde der teilweise durch Schwarzhändler und durch Weiterverkäufe etwa aus Indien umgangen.