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Mitgliederverlust der Kirchen„Wenn nichts geschieht, sind wir endgültig weg“

Lesezeit 5 Minuten

Protest bei der Frühjahrs-Vollversammlung der deutschen Bischöfe: Eine Regenbogenflagge vor der Basilika Vierzehnheiligen.

Weniger als die Hälfte der Deutschen gehört noch einer der beiden großen Kirchen an. Was ein Religionssoziologe dazu sagt – und woran das liegen könnte.

Die Klimaforschung hat den Begriff des „Kipppunkts“ populär gemacht: Momente, in denen eine zuvor fast unmerklich langsame Entwicklung sich von selbst beschleunigt. Das Schwinden des Eisschildes auf Grönland etwa: Durch den Eisverlust wird es immer flacher, und je mehr die Oberfläche absinkt, desto wärmer wird es dort, und umso rascher schmilzt weiteres Eis ab.

Professor sieht „Kipppunkt“

So einen Abschmelzprozess hat der in Münster lehrende Religionssoziologe Detlef Pollack bei den großen Kirchen in Deutschland beobachtet. „Wir befinden uns an einer Art Kipppunkt“, sagte er dem „Spiegel“. Die im Sommer veröffentlichten Kirchenstatistiken zeigen: Die Zahl der Mitglieder von römisch-katholischer und evangelischer Kirche ist auf insgesamt unter 50 Prozent der Bevölkerung gesunken. Und, so der Professor: „Mehrheitsverhältnisse haben die Tendenz, sich zu verstärken.“

Erste Zahlen von Amtsgerichten betätigen seine Diagnose. Dass 2021 die Rekordzahl von 639 338 Austritten aus beiden großen Kirchen erreicht wurde, hatte man noch mit einem Nachholeffekt erklären können (2020 waren die Amtsgerichte wegen der Corona-Pandemie nur eingeschränkt erreichbar). Aber neue Daten aus Großstädten zeigen: Der Prozess hat sich 2022 weiter beschleunigt. Das Amtsgericht Köln meldete schon für die ersten drei Quartale des zu Ende gehenden Jahres 18 100 Kirchenaustritte – im Gesamtjahr 2021 waren es 19 372, schon dies ein Rekordwert. In München gab es bis September 26 008 Kirchenaustritte, 4000 mehr als im gesamten Jahr 2021. Im evangelisch geprägten Hannover waren es mehr als 7000 gegenüber 6600 im gesamten Jahr 2021. In Berlin gingen 18 018 Kirchenmitglieder, 4000 mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Dort, wo Gerichte ihre Zahlen nach Konfessionen differenzieren (in Köln passiert das nicht), zeigt sich: die katholische Kirche ist überproportional betroffen. In München mag das im Frühjahr vorgelegte Missbrauchsgutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl ausschlaggebend gewesen sein, das neben Erzbischof Reinhard Kardinal Marx auch seine Vorgänger Friedrich Kardinal Wetter und Joseph Kardinal Ratzinger, den späteren Papst Benedikt XVI., erheblich belastete. Der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits gesundheitlich stark geschwächte emeritierte Papst fand viel zu spät zu einem Wort der Entschuldigung, ohne eine persönliche Verantwortung für Fehlentscheidungen anzuerkennen. Bei der Bearbeitung von Gutachterfragen war er zudem schlecht beraten worden, was zu einer später korrigierten Falschdarstellung führte.

Protestanten in „Mithaftung“ für Woelki?

Und das Erzbistum Köln kommt auch nach der Auszeit seines Erzbischofs Rainer Maria Kardinal Woelki nicht zur Ruhe. Der Präses der evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel, beklagt auch auf protestantischer Seite viele Austritte in und um Köln und sieht seine Kirche „in Mithaftung“ genommen.

Andererseits könnte man auch sagen: Die evangelische Kirche fährt im Windschatten der katholischen. Die EKD-Synode im November zeigte, dass die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt dort immer noch am Beginn steht, während dieser sehr schmerzhafte Prozess bei den Katholiken mit den Gutachten in München, Osnabrück und Münster und einem Zwischengutachten in Trier weitere Kulminationspunkte erreichte. Der Osnabrücker Franz-Josef Bode, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, will trotz schwerer eigener Fehler dem Papst nicht seinen vorzeitigen Rücktritt anbieten, sieht sich aber inzwischen mit einer Anzeige von Betroffenenvertretern beim Vatikan konfrontiert.

Verglichen mit den Osnabrücker, Trierer oder auch Münchner Versäumnissen sind die Fehler, die Woelki in Köln bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen anzukreiden sind, eher marginal. Die kleinteilige Debatte darüber hat aber inzwischen zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wegen umstrittener eidesstattlicher Versicherungen Woelkis geführt. Woelki beschrieb der Rundschau seine Sicht auf seine Lage: „Hier gibt es einen Kardinal, der im Feuer steht, also schütten wir noch ein Kännchen Benzin dazu, dann brennt es einfach noch heftiger.“ Große Schwierigkeiten hat er in der Kommunikation mit Mitarbeitenden und Gremienvertretern. Die Lage eskalierte im September, als eine Mehrheit der Mitglieder eine Sitzung des Diözesanpastoralrats, des obersten erzbischöflichen Beratungsgremiums, boykottierte. Vor seiner Rückkehr nach Köln hatte Woelki dem Papst ein Rücktrittsangebot vorlegen müssen, Franziskus lässt seine Entscheidung betont offen – eine Hypothek für das ganze Erzbistum. Dass derweil ein weithin akzeptiertes Konzept zur lange umstrittenen Bildung neuer pastoraler Einheiten, also zur Reform der Pfarrgemeinden, vorliegt, geht in der öffentlichen Wahrnehmung beinahe unter.

Zugleich debattieren beide große Kirchen über ihren zukünftigen Weg. Auf evangelischer Seite ist es erneut wie vor einem halben Jahrhundert das Verhältnis zur Politik. EKD-Synodalpräses Anna-Nicole Heinrichs verteidigt die Aktionen der Klimakleber von der „Letzten Generation“, das stößt auf Kritik konservativer Protestanten. Auch beim Umgang mit dem russisch-ukrainischen Krieg gibt es scharfe Auseinandersetzungen, der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer steht mit seinem radikal pazifistischen Kurs gegen die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus. Die Probleme dagegen, an denen sich die Katholiken abarbeiten, haben die Protestanten nicht mehr: die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an kirchlichen Ämtern ist dort ebenso selbstverständlich wie das Akzeptieren gelebter Homosexualität.

Mahnende Stimmen im Vatikan

Und das sind nur zwei der Themen, die die katholische Kirche derzeit förmlich zerreißen. Zwar setzten die Bistümer reihum ein reformiertes Arbeitsrecht in Kraft, nach dem Homosexualität oder auch die Wiederheirat nach einer Scheidung keine Kündigungsgründe mehr sind. Die grundsätzliche theologische Debatte, wie sie auf dem „Synodalen Weg“ geführt wird, ist damit aber noch keinen Schritt weitergekommen – so wenig wie bei anderen Themen. Beim Rom-Besuch der deutschen Bischöfe dominierten die mahnenden Stimmen im Vatikan. Papst Franziskus sah von einer Teilnahme am Gespräch der Bischöfe mit den Vertretern römischer Kongregationen ab – ein Papst, der auf Sicht fährt, der Bedenken gegen den deutschen Reformeifer hat, aber die letzte Festlegung vermeidet.

Aber welche Bedeutung haben deutsche Gravamina noch in weltkirchlicher Perspektive? Sind da nicht Fälle wie der des greisen Hongkonger Kardinals Joseph Zen viel wichtiger, den China wegen seines Eintretens für Demokratie und Menschenrechte strafrechtlich verfolgt? Dieser Zen gehört aber in punkto Kirchenreform zu den Verfechtern römischer Disziplin, gewiss nicht zufällig: Die Möglichkeit, immer auf die vatikanische Zentrale verweisen zu können, erleichtert das Leben in einer Diktatur. Aber da ist auch der polnische Episkopat, der die deutschen Amtsbrüder in einem offenen Brief förmlich abmahnte.

Ist ein Übereinkommen überhaupt noch denkbar? Konservative warnen vor einer Kirchenspaltung, Reformer sagen wie der Aachener Bischof Helmut Dieser im Rundschau-Interview: „Die Spaltung könnten wir auch bekommen, wenn wir nichts tun. Wenn nichts geschieht, sind wir endgültig weg.“