Kassenärztechef Andreas Gassen„Ausgangssperren sind reine Symbolpolitik“
- Andreas Gassen organisiert die Corona-Impfkampagne der Hausärzte.
- Im Interview mit Tobias Schmidt erklärt der Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), dass er die bundesweite Notbremse für kontraproduktiv hält.
Herr Gassen, das Kabinett hat die Notbremse auf den Weg gebracht. Wird sie umgesetzt, würden bald bundesweit Ausgangssperren und Kontaktverbote verhängt. Ist das jetzt notwendig, um die dritte Welle zu brechen?Ich habe Zweifel, ob Ausgangssperren die dritte Welle brechen können. Aerosolforscher haben aufs Neue erklärt, dass man sich an der frischen Luft praktisch nicht anstecken kann. Daher macht gerade dieser Teil des Maßnahmenpakets kaum Sinn. Ausgangssperren sind reine Symbolpolitik, genau wie die Pflicht zum Maskentragen an der frischen Luft. Unsere Befürchtung ist jetzt aber vielmehr: Mit der Notbremse soll womöglich vorgebaut werden, dass weniger Impfstoff kommt als bislang eingeplant und der Impfeffekt dann wesentlich später kommt.
Selbst wenn alle zugesagten Impfstofflieferungen eintreffen, würde das nicht ausreichen, den Anstieg der Zahl der Intensivpatienten rasch zu bremsen…
Kein Zweifel, es gibt wieder mehr Corona-Intensivpatienten. Aber das ist nach Aussagen von Krankenhausverbänden zu bewältigen. Die Auslastung der Intensivstationen insgesamt steigt, weil der Normalbetrieb großenteils weiterläuft. Der Anteil der Covid-Fälle an allen Intensivpatienten liegt unter 20 Prozent. Werden wieder geplante Eingriffe verschoben, können zusätzliche Kapazitäten geschaffen werden. Eine wirkliche Überlastung des Systems zeichnet sich Gottseidank nicht ab.
Die Warnungen der Intensivmediziner sind übertrieben?
Die Sorgen sind sehr nachvollziehbar. Wir sind inzwischen wieder bei mehr als 4.500 Covid-Intensivpatienten, das ist eine sehr hohe Zahl. Sie alle sind schwer krank, und ein erheblicher Teil ist in Gefahr zu versterben. Da gibt es nichts zu bagatellisieren. Die Frage ist aber, wie wir ein weiteres Hochschnellen der Kurve stoppen könnten. Um die Ausbreitung des Virus zu bremsen, müssen Kontakte beschränkt werden, das ist klar. Das Verhalten der Menschen im Privaten ist aber nicht sinnvoll zu kontrollieren. Also kommen wir nur zum Ziel, wenn die Menschen sich und andere aus eigener Überzeugung schützen.
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Und das tun sie nicht ausreichend?
Was mir in dem Zusammenhang große Sorge bereitet: Einen Teil der Bevölkerung erreichen wir noch immer nicht, sei es zum Beispiel wegen Sprachbarrieren. Dabei ist doch klar: Niemand will sich anstecken, aber wir schaffen es nicht wirklich, dafür zu sorgen, dass sich alle besser schützen. Die Politik müsste viel direkter auf diese Bevölkerungsgruppen zugehen.
Aber einen Brücken-Lockdown braucht es nicht?
Worin unterscheidet der sich letztlich außer durch Schulschließungen und Ausgangssperre vom jetzigen Zustand? Das öffentliche Leben, Restaurants, Sport, Kultur, das ist doch längst alles dicht. Ausgangssperren werden kaum helfen, die Leute haben schon jetzt einen Lagerkoller und sollen eigentlich ja raus aus den Innenräumen an die frische Luft. Was bliebe, wäre, die Schulen wieder komplett zu schließen, mit gravierenden Folgen für die Jugend. Nein, durch immer neue und teils nur symbolische Maßnahmen erreichen wir das Gegenteil. Dadurch verlieren wir die Akzeptanz der Leute. Dass die Lockdown-Politik allein nur begrenzt wirkt, erleben wir doch schon seit November.
Sie haben schon im Oktober vehement vor harten Eindämmungsmaßnahme gewarnt. Aber ohne den dann doch verhängten Lockdown wäre die Lage zum Jahreswechsel doch völlig eskaliert…
Das ist mittlerweile eine müßige Diskussion. Es gibt kaum hinreichende Studien, um klar zu belegen, welche Maßnahmen welche Wirkung hatten. Fakt ist: Auch zum Jahreswechsel gab es glücklicherweise keine Überlastung des Gesundheitswesens. Wenn sich die Lage nun zuspitzen sollte, können durch die Verschiebung elektiver Eingriffe ausreichend Kapazitäten geschaffen werden. Wenn manche schon wieder vor Triage-Szenarien warnen, in denen Ärzte entscheiden müssten, wen sie noch behandeln, ist das ein völlig unangebrachter Alarmismus.
Zum Impfen: Das hat nun auch in den Hausarztpraxen begonnen. Wann sind endlich so viele Menschen immunisiert, dass sich die Intensivstationen leeren und die Freiheit zurückkehrt?
Das Impfen ist der Weg aus der Pandemie. Und seitdem die Hausärzte mitmachen dürfen, könnte es viel schneller gehen, das haben die ersten Tage gezeigt. Wenn nur genug Impfstoff käme. Leider erhalten die Praxen schon wieder weniger Impfstoff als zugesagt. Das macht uns enorme Sorgen.
Was heißt das konkret?
Den Praxen werden in den kommenden Wochen viel weniger Biontech-Dosen zugewiesen als versprochen, weil der Impfstoff offensichtlich vorrangig an die Impfzentren geht. Die Zuteilung für die Hausärzte wurde halbiert. Daher wächst bei den niedergelassenen Ärzten die Sorge, dass sie in den kommenden Wochen eher weniger als mehr am Impfgeschehen teilhaben können. Dann wird es deutlich länger dauern.
Das klingt nach grobem Impf-Missmanagement…
Kommt nicht mehr Impfstoff in die Praxen, wird das Impfversprechen, wonach im Sommer alle Willigen immunisiert sein können, nicht zu halten sein. Die Lieferreduzierungen in dieser und der kommenden Woche lassen das Schlimmste befürchten. Wenn gleichzeitig aus dem Kanzleramt gewarnt wird, der Lockdown müsse bis Juni verlängert werden, schrillen bei uns die Alarmglocken. Dabei könnten wir vier, fünf Millionen Menschen in jeder Woche impfen, rund 75.000 Arztpraxen stehen dafür bereit. Erhalten die Praxen genug Impfstoff, könnten wir schon im Juni die Herdenimmunität erreicht haben.
Werden die Biontech-Kürzungen für die Hausärzte nicht durch mehr Astrazeneca ausgeglichen?
Ja, aber das wird so nicht aufgehen. Wenn die Impfzentren komplett den vergleichsweise unproblematischen Impfstoff erhalten, die Praxen aber den umstrittenen, der zumal den Unter-60-Jährigen nicht gespritzt werden darf, wird die Impfkampagne massiv ins Stocken geraten. Das darf nicht passieren!
Können die Hausärzte die Astrazeneca-Skepsis nicht eher ausräumen als die anonymen Impfzentren?
Moment! Die Impfzentren sind mit sehr viel Geld nur fürs Impfen aufgebaut worden. Die Haus- und Fachärzte müssen die Regelversorgung aufrecht erhalten und impfen zusätzlich. Sie haben zu wenig Zeit, um bei jedem Patienten Astrazeneca-Vorbehalte auszuräumen, zumal die Ständige Impfkommission hier Verwirrung gestiftet hat. Von der Stiko muss deshalb jetzt ganz schnell eine klare Ansage kommen, für wen Astrazeneca gut geeignet ist. Dafür haben wir die Kommission ja. Und für das Vakzin sollte die Priorisierung aufgehoben werden, dann finden sich schnell sehr viele Menschen, die sich damit impfen lassen werden.
Haben Sie selbst Bedenken bei Astrazeneca?
Nein. Das ist ein sicherer und wirksamer Impfstoff, mit dem ich mich selbst habe immunisieren lassen. Die Praxen lehnen ihn auch nicht ab. Aber sie müssen das ganze Spektrum der Vakzine nutzen können, um alle Patienten so schnell wie möglich mit dem passenden Stoff versorgen zu können, sie haben ja auch viele chronisch kranke Patienten unter 60 Jahren. Insgesamt kommen 60 bis 70 Prozent aller Dosen im Moment von Biontech. Und der entsprechende Anteil muss auch an die Hausärzte und dann auch an die Fachärzte gehen.
Johnson & Johnson liefert erstmal nichts, weil es zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommen könnte. Was bedeutet das für den Impffortschritt?
Welche Auswirkungen der angekündigte Exportstopp nach Europa haben wird, muss sich zeigen. Wir kennen ja noch nicht die Details. Das Ganze ist natürlich nicht gerade förderlich für das schnelle Fortschreiten der Impfkampagne.
Würde die Herdenimmunität schneller erreicht, wenn die Impf-Priorisierung aufgehoben würde?
So lange nicht genug Impfstoff für alle da ist, macht die Priorisierung Sinn. Es rettet schon jetzt sehr, sehr viele Leben, dass bei uns die Hochbetagten zuerst drangekommen sind. Je eher genug Dosen ankommen, desto schneller können wir die strikte Impfreihenfolge lockern und in die Breite gehen. Wird geliefert wie versprochen, kann das vielleicht schon im Mai soweit sein.