Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, spricht im Interview mit Raimund Neuss über die schockierenden Ergebnisse der Studie zu sexuellem Missbrauch.
Interview mit Thorsten Latzel„Wir versuchen, den einzelnen Menschen gerecht zu werden und nicht nur Fälle zu sehen“
Die Forum-Studie deutet auf eine weit höhere Zahl von Betroffenen sexualisierter Gewalt hin als bisher bekannt. Was heißt das für Ihre Landeskirche?
Das Leid der betroffenen Menschen, die Zahl der Fälle und das institutionelle Versagen, das die Studie zeigt, das ist erschütternd für mich. Und hinter jedem dieser einzelnen Fälle steht erlittenes Unrecht, steht das Leid von einzelnen betroffenen Menschen und steht schuldhaftes Versagen von Verantwortungsträgern unserer Kirche. Über die Zahlen gibt es nur Vermutungen. Aber jeder einzelne Fall ist ein Fall zu viel. Und die Betroffenen haben ein Anrecht darauf, dass wir jetzt erst mal hinhören auf das, was sie in dieser Studie gesagt haben. Dass wir das konsequent aufarbeiten und nicht bloß abarbeiten. Und dass wir den Fällen weiter nachgehen. Das werden wir auch machen: mit einer regionalen Aufarbeitungsstudie, mit Einzelfallstudien und ohne jedes Ansehen von Personen und Institutionen.
Aber die Dimension der Schuld scheint noch größer zu sein als bisher bekannt.
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Es gibt mit Sicherheit mehr als das, was wir bisher wissen. Auch mehr als in dieser Studie erfasst ist. Ich bin den Betroffenen sehr dankbar, dass sie bei dieser Studie mitgewirkt haben. Diese Hilfe brauchen wir auch weiter, denn es ist längst nicht alles aktenkundig geworden. Das sollte jetzt im Vordergrund stehen: Auf die Betroffenen hören und konsequent die Studie auswerten.
Die Studienautoren sagen, sie hätten nur von einer Landeskirche alle Personalakten bekommen. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Die evangelische Kirche ist dezentral organisiert mit vielen unterschiedlichen Anstellungsträgern. Das macht eine Befragung so schwierig. Man muss etwa erst einmal herausfinden, wo zum Beispiel ein Jugendmitarbeiter angestellt war. Wir haben bei uns im Rheinland alle Personal- und Disziplinarakten auf landeskirchlicher Ebene durchgesehen und die Informationen dazu auch weitergegeben. Wir haben zur Qualitätssicherung das von einem unabhängigen Strafrechtler, einem Richter, auch noch einmal kontrollieren lassen.
Was passiert jetzt als nächstes in Ihrer Landeskirche?
Zunächst müssen wir einmal diese umfangreiche und intensive Studie, diese 880 Seiten, wahrnehmen, die qualitativen und quantitativen Ergebnisse. Wir müssen lernen, wo es Nachbesserungsbedarf gibt. Wir haben bei im Rheinland intensive Präventions- und Interventionsmaßnahmen: Jede Einrichtung muss ein Schutzkonzept vorlegen. Jeder Mitarbeitende erhält eine Präventionsschulung. Wer mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, muss ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Es gibt Multiplikatorinnen, Melde- und Beratungsstellen. Aber wir müssen schauen, ob diese Maßnahmen reichen. Und wo wir in der Aufarbeitung noch genauer hinschauen müssen. Ein Beispiel ist etwa der Einfluss sexualpädagogischer Vorstellungen früherer Zeiten. Wir werden Einzelstudien machen – eine gibt es schon zum Martinstift in Moers – und wir werden gemeinsam mit den Landeskirchen von Westfalen, von Lippe und mit der Diakonie eine umfangreiche regionale Aufarbeitungsstudie machen.
Bieten Sie Betroffenen Gespräche an?
Wir haben dieses Thema auf der Führungsebene ganz oben angesiedel. Vizepräses Christoph Pistorius als Personalverantwortlicher ist dafür zuständig, ich selbst habe auch Gespräche geführt. Wir versuchen, den einzelnen Menschen wirklich gerecht zu werden und nicht nur Fälle zu sehen. Wir reden immer so schnell über Zahlen. Entscheidend ist das Schicksal der Menschen.
Die Studienautoren kritisieren das Verfahren für Anerkennungsleistungen. Was muss sich ändern?
Der Föderalismus im Protestantismus wird zum Problem, wenn einzelne Landeskirchen die Anerkennung unterschiedlich handhaben. Hier brauchen wir ein einheitliches Vorgehen. Das wird im Beteiligungsforum mit den Betroffenen gemeinsam erörtert.
Aber Sie könnten dafür ja auch eigene Vorstellungen einbringen, zum Beispiel hinsichtlich der Höhe. Das Landgericht Köln hat einem Missbrauchsopfer 300 000 Euro zugesprochen.
Es geht nicht darum, was jetzt einzelne leitende Geistliche denken, sondern um einheitliche, verlässliche Standards in allen 20 Landeskirchen, die wir mit den Betroffen gemeinsam klären. Und es braucht auch Widerspruchsmöglichkeiten. Klar ist aber: Es sind Anerkennungsleistungen, das Leid können sie nicht ungeschehen machen.
Interview: Raimund Neuß