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Interview mit SozialverbandspräsidentMuss der Staat Ärmeren jetzt mehr helfen?

Lesezeit 4 Minuten
Lebensmittel

Lebensmittel werden zunehmend teurer.

Vor allem die Ärmeren in Deutschland werden unter den Folgen des Ukraine-Kriegs zu leiden haben. Sozialverbandspräsident Adolf Bauer fordert deshalb im Interview mit Rena Lehmann, endlich ernsthaft über höhere Steuern für Reiche zu reden.

Die Politik bereitet die Bürger wegen des Kriegs in der Ukraine auf den Verlust von Wohlstand vor. Macht Ihnen das Sorgen?

Natürlich rechnen wir damit, dass wir alle ärmer werden durch diesen Krieg. Die ärmere Bevölkerung muss angemessen unterstützt und es müssen Maßnahmen getroffen werden, die die unteren Einkommensschichten entlasten. Noch wissen wir nicht, welche zusätzlichen Belastungen auf alle zukommen werden. Es sind nicht nur die Energiepreise, die unglaublich steigen, sondern auch die Mieten und die Nahrungsmittelpreise. Wenn das so weitergeht, wird die ärmere Bevölkerung, bei der es gar nicht um Wohlstandsverlust geht, weil sie ohnehin kaum über die Runden kommt, über die Maßen leiden. Das kann die Politik nicht dulden.

Dämpfer für Wirtschaft und hohe Energiepreise

Ein vollständiger Einfuhrstopp russischer Energie könnte die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nach Modellrechnungen der Bundesbank in eine Rezession stürzen. „Im verschärften Krisenszenario würde das reale Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr gegenüber dem Jahr 2021 um knapp 2 Prozent zurückgehen“, hieß es in einem am Freitag veröffentlichten Monatsbericht der Notenbank. Die Wirtschaftsleistung könnte damit um bis zu 5 Prozent niedriger ausfallen als in der März-Prognose der Europäischen Zentralbank (EZB) angenommen. Umgerechnet in absolute Zahlen wären das ungefähr 165 Milliarden Euro.

Vor allem bei der Gasversorgung dürfte es demnach zu Engpässen kommen, da es kurzfristig kaum möglich wäre, Lieferausfälle aus Russland durch erhöhte Einfuhren aus anderen Förderländern komplett zu ersetzen. Die Bundesbank geht in ihrem Szenario davon aus, dass der Einsatz von Energie rationiert würde.

Der Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), Fatih Birol, rechnet noch mindestens zwei bis drei Jahre lang mit hohen Energiepreisen. „Es ist eine Zickzackbewegung und wir sind erst am Anfang, keiner weiß, was noch passieren wird“, sagte Birol Zeit online. (dpa)

Was bedeuten die aktuellen Preissteigerungen konkret für eine Familie mit geringem Einkommen in Deutschland?

Von Urlaub sprechen solche Familien ohnehin schon nicht mehr. Von den Menschen in der Grundsicherung – oft Alleinerziehende und Rentnerinnen und Rentner – geht schon jetzt ein großer Teil zur Tafel. Das betrifft etwa sechs Millionen Menschen. Sie können den Gürtel nicht mehr enger schnallen. Sie leben jetzt schon in Armut oder an der Armutsgrenze, denen kann man nicht noch mehr zumuten.

Was schlagen Sie vor?

Angesichts der derzeit explodierenden Preise für Energie und viele Güter des täglichen Bedarfs erneuert der Sozialverband seine Forderung, in den Grundsicherungssystemen bis zur grundsätzlichen Neufestlegung der Regelsätze einen monatlichen Krisenzuschlag in Höhe von 100 Euro zu zahlen. Denn die geplante Einmalzahlung für die Empfängerinnen und Empfänger von Transferleistungen in Höhe von 200 Euro geht zwar in die richtige Richtung, entspricht aber gerade mal 16,66 Euro im Monat und kann so die exorbitanten Teuerungen nicht ausreichend abfedern.

Halten Sie ein Energie-Embargo gegen Russland für verantwortbar?

Das sollte die Politik sehr sorgfältig prüfen. Wir als Sozialverband halten es für vernünftig, wie die Bundesregierung vorgeht. Das Risiko dramatischer Folgen für unseren Arbeitsmarkt sollten wir nicht eingehen. Wir können erst aus der Energieversorgung von Russland aussteigen, wenn wir ausschließen können, dass es hier zu großen Verwerfungen führt. Es muss zuerst sichergestellt werden, dass wir alternative Energiequellen haben.

Ist Deutschland für die Aufnahme von vielen Hunderttausend Ukrainern gerüstet?

Wir stellen fest, dass die Folgen der Flüchtlingskrise 2015 noch nicht bewältigt sind. Trotzdem haben wir noch immer eine unglaubliche Hilfsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung. Die Ukrainerinnen und Ukrainer fliehen vor Bomben und Zerstörung, und unsere Bevölkerung nimmt sie sehr offen und warmherzig auf. Die schnelle Eingliederungshilfe ist sinnvoll. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht Menschen gegeneinander ausspielen.

Inwiefern?

Es darf nicht passieren, dass es zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft kommt zwischen Geflüchteten, die schon hier sind, und denen, die jetzt aus der Ukraine kommen und ein verkürztes Aufnahmeverfahren durchlaufen. Es ist wichtig, dass allen Geflüchteten gleichermaßen geholfen wird. Es wird eine große Belastung für unsere Gesellschaft werden, aber wir gehen davon aus, dass die vielen qualifizierten Leute, die jetzt kommen, hier auch arbeiten können. Wenn man die Bilder der Zerstörung in der Ukraine sieht, ist klar, dass es lange dauern wird, bis sie zurückkehren können.

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Kommt der Sozialstaat trotzdem finanziell an seine Grenzen?

Der Staat ist in der Lage, kurzfristig Milliardenbeträge zu mobilisieren. Das war er in der Finanzkrise und auch in der Flüchtlingskrise, und das haben wir in der Pandemie gesehen. Und der Staat war nach der Finanzkrise in der Lage, die Belastungen innerhalb weniger Jahre wieder wettzumachen. Während der Pandemie ist das Steueraufkommen nicht dramatisch eingebrochen. Sogar in dieser kritischen Phase sind manche Menschen reicher geworden. Wenn die Belastungen jetzt über Gebühr steigen, muss der Staat bisherige Tabus in der Steuerpolitik brechen. Die Wiedereinführung der Vermögensteuer oder eine Einmalzahlung für Vermögende müsste dann endlich ernsthaft diskutiert werden.