- Als Andrea Nahles vom Partei- und Fraktionsvorsitz zurücktrat, wurde Rolf Mützenich zum kommissarischen Nachfolger bestimmt.
- 1976 trat der Kölner in die SPD ein, seit 2002 ist er im Bundestag.
- Die besonnene Art des Außenexperten wird allseits geschätzt.
- Im September könnte der 60-Jährige Fraktionschef werden.
Berlin – Der kommissarische SPD-Fraktionschef kämpft um die Koalition und will seine Partei wieder selbstbewusster machen. Es sieht so aus, dass er den Fraktionsvorsitz dauerhaft übernehmen möchte.
Das Gespräch führten Jan Drebes und Kristina Dunz
Herr Mützenich, Ihre kritische Rede bei der Vereidigung der Verteidigungsministerin ist als Warnung verstanden worden, dass sich die SPD auch gut ein politisches Leben ohne diese Koalition vorstellen kann. Haben Sie innerlich schon Ihren Frieden mit der Rolle des Oppositionellen gemacht?
Mützenich: Die Rolle eines Oppositionellen ist überhaupt nicht meine. Ich repräsentiere eine Fraktion, die Teil der Regierungskoalition ist. Gegenüber der neuen Ministerin wollte ich die Expertise und Eigenständigkeit des Parlaments in der Außen- und Sicherheitspolitik betonen, die es sich in den letzten Jahrzehnten erarbeitet hat, und das Selbstvertrauen der SPD-Fraktion stärken.
Hat Sie die scharfe Ablehnung aus der Union überrascht, als sie den US-Präsidenten einen Rassisten nannten und mehr Geld für Verteidigung ablehnten? Oder war das kalkuliert?
Es dürfte dem Koalitionspartner nicht neu gewesen sein, was ich zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben gesagt habe. Und bei meiner Position zu US-Präsident Donald Trump bleibe ich. Seine jüngsten Äußerungen haben das ja leider bestätigt.
Ist die Bundeskanzlerin in der Causa Trump einer Meinung mit Ihnen?
Sie hat sich von den rassistischen Tweets des Präsidenten gegen die demokratischen Parlamentarierinnen distanziert. Dafür sind wir Angela Merkel dankbar. Ein Fraktionschef kann sich im Übrigen deutlicher äußern als eine Regierungschefin.
Sehen Sie Trump als Wegbereiter für rechtspopulistische Parteien in Deutschland und Europa?
Donald Trump hat mit seiner Sprache, seinem Verhalten und letztlich auch Entscheidungen auf der internationalen Bühne die Maßstäbe verschoben. Dies wird von rechtspopulistischen Parteien in Europa als Ermunterung aufgenommen. Die Brutalisierungen in seiner Sprache schwappen in unserer vernetzten Welt bis nach Europa.
Es liegt nun eine Anfrage der USA an Deutschland vor, sich wegen der Tankerkrise im Persischen Golf an einem militärischen Einsatz zu beteiligen. Halten Sie noch einmal eine diplomatische Initiative für möglich, um das so mühevoll ausgehandelte Atomabkommen mit dem Iran zu retten?
Diplomatie darf nie aufhören, Kriege verhindern zu wollen. Ich plädiere sehr stark für eine außenpolitische Rolle Deutschlands, auch weil wir derzeit Mitglied des UN Sicherheitsrates sind und in der Region ohne eigene geopolitische Interessen wahrgenommen werden. Deshalb ist es gut, die Frage zu internationalisieren. Nicht nur Europa wäre von der drohenden Eskalation betroffen, sondern auch die asiatischen Staaten, die ein noch größeres Interesse an der freien Durchfahrt im Persischen Golf haben. Deshalb ist es angebracht, unsere Rolle derzeit in New York zu sehen.
Sollte Deutschland mehr Nähe zu China oder Russland wagen, wenn man sich auf die US-Regierung nach Ihren Worten nicht mehr verlassen kann?
Es ist durchaus möglich und wünschenswert, dass sich die Verhältnisse in den USA wieder ändern werden. Die Europäische Union ihrerseits muss sich zum einen auf die eigenen Instrumente und Möglichkeiten der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik stärker konzentrieren und zum anderen auch im Rahmen der Vereinten Nationen mit anderen Ländern zusammenarbeiten. Dafür ist das Iran-Abkommen ein interessantes Beispiel, weil sich China und Russland diesem Programm angeschlossen haben. Wir müssen nach den Partnern Ausschau halten, die mit uns eine Politik der Entspannung und des Dialogs betreiben wollen.
Was erwarten Sie von dem neuen britischen Premier Boris Johnson? Einen britischen Trump?
Wir hoffen natürlich nicht, dass er eine kleine Kopie von Donald Trump in Europa wird. Die Berichte in Großbritannien darüber, dass er mit Lügen arbeitet, haben ihren Widerhall gefunden – auch bei mir. Großbritannien ist in der europäischen Verfassungsgeschichte ein Vorbild für viele Länder. Ich hoffe, dass der neue Premierminister das noch im Kopf hat. Jetzt können wir nur auf einen vernünftigen Abschluss der Brexit-Verhandlungen hoffen. Denn wir wissen, dass Johnson am 31. Oktober aussteigen will – auch ohne Einigung.
Wird das Leben in der EU für Deutschland mit Ursula von der Leyen als EU-Kommissionschefin leichter?
Wichtig wird sein, ob sie ihre programmatische Bewerbungsrede auch umsetzen kann. Und wie ihr Verhältnis zu den Regierungen in Ländern der Europäischen Union sein wird, die offensichtlich die Werte der EU nicht teilen.
Spüren Sie schon, wie sehr die Union der SPD verübelt, dass deren EU-Abgeordneten von der Leyen nicht mitgewählt haben während Merkel bereit war, den unterlegenen SPD-Spitzenkandidaten Frans Timmermans als Kommissionschef mitzutragen?
Man sollte in der Politik nicht in Dimensionen der Revanche argumentieren. Natürlich weiß ich, dass die Union das Verhalten der freigewählten sozialdemokratischen Europa-Abgeordneten nicht gut geheißen hat. Man sollte aber nicht übersehen, dass sich die Grünen genauso verhalten haben.
Die sind nicht Koalitionspartner.
Das war keine Frage, die vom Koalitionsvertrag erfasst wurde. Die Grünen tragen für Europa genauso Verantwortung.
Was hält Union und SPD denn noch in der Koalition zusammen?
Wir haben noch genügend Punkte im Koalitionsvertrag, die wir bearbeiten müssen. Im Spätsommer stehen der Klimaschutzplan und die Grundrente an. Dann haben wir die große Herausforderung der Digitalisierung der Arbeitswelt, die vor allem im Interesse der Beschäftigten gestaltet werden muss.
Der Kandidat für den SPD-Vorsitz, Karl Lauterbach, argumentiert gegen die große Koalition.
Er trifft damit ein Stimmungsbild in der SPD. Es gibt aber auch andere Ansichten. Ich muss mich frei machen von Stimmungen. Ich will die SPD wieder selbstbewusster machen.
Werden die Landtagswahlen am 1. September in Brandenburg und Sachsen im Falle schlechter Ergebnissen für die SPD eine Zäsur?
Das ist eine wichtige Wegmarke und wird die Stimmungslage prägen, in allen Parteien. Wir tun alles dafür, dass die SPD gut abschneidet.
Hat die SPD je noch einmal die Chance, auf Bundesebene stärkste Kraft zu werden?
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat alle Möglichkeiten, die Rolle einer Volkspartei auf allen Ebenen wahrzunehmen.
Ist es nicht wahrscheinlicher, dass die SPD das Schicksal europäischer Schwesterparteien erleidet und einstellig wird?
Es gibt ermutigende Signale, dass sozialdemokratische Parteien wieder stärker geworden sind – zuletzt in den Niederlanden, Portugal und Finnland zum Beispiel.
Derzeit sind Sie kommissarisch SPD-Fraktionschef, verspüren Sie Verantwortung, die Fraktion dauerhaft zu leiten?
Wenn ich keine Verantwortung tragen wollte, hätte ich doch nicht 2002 für den Bundestag kandidiert. Ich versuche, die Rolle, die mir die Abgeordneten per Akklamation zugewiesen haben, jetzt auszufüllen. Künftige Entscheidungen werde ich aber zuerst den Gremien meiner Fraktion mitteilen. Die Klausurtagung der Bundestagsfraktion am 5. und 6. September wird dafür ein geeigneter Zeitpunkt sein.
Viele in der Fraktion setzen darauf, dass Sie kandidieren werden. Machen Sie sich von diesem Druck frei?
Ich versuche, das als Ermutigung wahrzunehmen.