AboAbonnieren

Interview mit Karl Lauterbach„Das vorläufige Ende der Gefahr ist zum Greifen nah“

Lesezeit 8 Minuten
Karl Lauterbach dpa

Karl Lauterbach 

  1. Angesichts der immer noch akuten Gefahr durch Corona warnt Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vor zu viel Sorglosigkeit.
  2. Die vierte Impfung sei deshalb für Risikopatienten unbedingt nötig, so Lauterbach im Interview mit Tobias Schmidt.

Herr Minister, wegen hoher Inzidenzen haben die meisten Bundesländer die Corona-Maßnahmen bis 2. April verlängert. Wie genau soll es danach weitergehen?

Ich gehe davon aus, dass einige Länder auch über den 2. April hinaus die Hotspot-Regelung nutzen und landesweit oder zumindest regional an der Maskenpflicht und Zugangsbeschränkungen festhalten werden, wenn bei ihnen weiter sehr hohe Inzidenzen herrschen und die Gesundheitsversorgung gefährdet werden könnte. Mecklenburg-Vorpommern will das offenbar so entscheiden. Das begrüße ich ausdrücklich. Auch in Sachsen wird das diskutiert. Dort stehen die Krankenhäuser wegen der vielen Corona-Fälle enorm unter Druck, so dass die Hotspot-Kriterien greift.

Im Gesetz stehen keine klaren Kriterien, das sorgt doch für so viel Verwirrung…

Das ist unbegründet. Die Länder können doch mit einfachen Leitfragen erkennen, ob ein Versorgungsnotstand droht: Müssen sich Krankenhäuser wegen Überlastung von der Notfallversorgung abmelden? Müssen Eingriffe verschoben werden? Können die Personaluntergrenzen in der Pflege eingehalten werden? Werden Betten für Covid-Patienten freigehalten? Müssen Patienten in andere Krankenhäuser verlegt werden? Solche Fragen sind objektiv zu beantworten. Das ist ein Weg für die Länder, die Hotspot-Regel anzuwenden.

Laut Gesetz müssten die Landesparlamente für jeden Landkreis neu entscheiden. Wie soll das funktionieren?

Die Darstellung ist falsch. Anhand eindeutiger Parameter können die Landtage Hotspots identifizieren und passgenau vorgehen, das ist der große Vorteil. Es können in einer Landtagssitzung Städte, mehrere Landkreise oder – wie in Mecklenburg-Vorpommern geplant – vielleicht ganze Länder Hotspots sein, sodass die Maßnahmen dort verlängert oder sogar verschärft werden können und auch müssen. Anwendung sollte diese Regel nicht nur dort finden, wo die Lage schon kritisch ist, sondern auch dort, wo eine Überlastung des Gesundheitswesens in Zukunft konkret droht. Das ist mir sehr wichtig: Wo es nötig ist, kann weiterhin konsequent eingedämmt werden! Wir können die Lage mit dem Gesetz weiterhin beherrschen.

Selbst der WHO gehen die Lockerungen in Deutschland zu weit. Mal im Ernst, ist das neue Infektionsgesetz keine Kapitulation vor der FDP und ihrem „Freedom Day“?

Es gibt keinen „Freedom Day“, der ist abgesagt, und das ist gut so. Wir sehen in anderen Länder, wozu voreilige Öffnungen führen. In Österreich wurde die vermeintliche Freiheit gefeiert, dann sind die Zahlen hochgeschossen, jetzt ist die Maskenpflicht zurück. Wir halten am Basisschutz fest, wo er notwendig ist. Es sterben weiterhin 250 bis 300 Menschen jeden Tag. Zum Feiern ist es viel zu früh.

Die Bürgertest sollen noch bis Ende Mai bezahlt werden. Und danach?

Wenn es die Corona-Lage erfordert, werden die Bürgertests auch über den 31. Mai hinaus zur Verfügung stehen. Wir entscheiden nach Situation. Zunächst wurden die Bürgertests verlängert. Die Tests bleiben ein wertvolles Instrument. Wer von seiner Infektion erfährt, muss sich absondern, schützt andere und dämmt die Virus-Ausbreitung ein. Mein Appell an die Bürger: Nutzen Sie die Tests weiterhin, auch wenn keine Negativtests mehr für Bars und Discos verlangt werden. Bei Verwandtenbesuchen, Feiern, Veranstaltungen. Gerade vor Begegnungen mit Immungeschwächten sollte gelten: Nur mit negativem Test! Denn stecken diese sich an, können sie im Extremfall sterben, weil Impfungen bei ihnen nicht so wirksam sind. 20 bis 30 Prozent der Corona-Intensivpatienten haben geschätzt eine Immunschwäche. Auch um sie zu schützen, sind die Bürgertests Gold wert.

Es gibt auch positive Entwicklungen. Neuinfizierte stecken seit einer Woche im Schnitt weniger als eine andere Person an, der Frühling hält Einzug. Bricht die Welle gerade?

Wir haben die Chance, dass dank des guten Wetters der Scheitelpunkt bald erreicht sein könnte. Für mich ist aber ein ganz anderer Punkt bedeutsam: Ich appelliere gerade jetzt an alle Menschen ab 70 Jahren und diejenigen mit Risikofaktoren, sich schnellstmöglich zum vierten Mal impfen zu lassen! Das hat die Ständige Impfkommission zwar empfohlen, wird aber viel zu wenig befolgt. Ältere Menschen, Vorerkrankte oder Immungeschwächte sind aber mit nur einem Booster leider nicht optimal geschützt. Das reicht für diese Gruppe leider nicht aus, um schwere Corona-Erkrankungen sicher zu vermeiden. Das ist der Grund, warum fast die Hälfte der Intensivpatienten geboostert sind, und viel zu viele von ihnen sterben. Dennoch ist das Risiko zur Aufnahme auf die Intensivstation insgesamt für Ungeimpfte 10 mal so hoch wie für Geboosterte.

Vielen erscheinen die Impfungen deswegen nutzlos!

Das ist leider ein verheerender Eindruck, der ausgeräumt werden muss. Für die gesunden, jungen Menschen reicht ein Booster. Mit der sehr erfolgreichen Auffrisch-Kampagne zum Jahreswechsel haben wir es geschafft, viele Ältere vor schwerer Erkrankung zu schützen. Das hat dafür gesorgt, dass wir bei den Sterbezahlen im internationalen Vergleich nach wie vor gut dastehen. Leider hat sich aber der Eindruck verbreitet, Omikron sei harmlos. Das ist falsch. Für viele Ältere ist auch Omikron gefährlich, viel gefährlicher als etwa die Grippe, auch wenn immer wieder anderes behauptet wird.

Jetzt noch boostern, obwohl die Welle gerade bricht?

Genau das ist meine Botschaft: In den kommenden Wochen wird sich die Lage entspannen, das vorläufige Ende der Gefahr ist zum Greifen nah. Aber es ist doch nichts schlimmer und sinnloser, als nach mehr als zwei Jahren Pandemie in den letzten Wochen doch noch schwer zu erkranken, womöglich zu sterben. Unnötigere Todesfälle darf es jetzt nicht geben. Und die Viertimpfung wirkt schon nach sieben Tagen, auch eine Erstimpfung für noch gar nicht Immunisierte ist wertvoll, um das rettende Ufer zu erreichen. Also bitte, alle Menschen ab 70, alle Immungeschwächten, diejenigen mit Herz-Kreislauf-Problemen, holen Sie sich schnell die nächste oder auch die erste Impfung, um einen späten Tod in den letzten Wochen vor dem Sommer abzuwenden! Die Impfzentren sind frei, Impfstoff ist vorhanden, vertun sie diese Chance nicht!

Sind Viertgeimpfte dann auch im Herbst geschützt?

Wir müssen befürchten, dass bis zur kalten Jahreszeit eine Mutante aufkommt, die so ansteckend ist wie Omikron und so gefährlich wie Delta. Bislang haben alle Impfstoffe gegen alle Varianten gewirkt. Somit wären wir bereits jetzt für eine Impfpflicht gewappnet. Ich bin aber sehr sicher, dass bis dahin zusätzliche Impfstoffe verfügbar sind, die gegen so eine Omikron-Mutation deutlich effektiver schützen. Die Verträge mit Biontech dafür sind bereits geschlossen, mit Moderna sind wir gerade in den Verhandlungen.

Halten wir fest: Sollte die Impfpflicht kommen, steht dafür ausreichend wirksamer Impfstoff zur Verfügung?

Absolut. Die neuen Impfstoffe kommen für die Omikron-Welle zu spät, aber im Herbst sind sie längst da!

Das könnte Sie auch interessieren:

Ob die Impfpflicht kommt, steht in den Sternen, oder?

Ich bin überzeugt, dass wir im Bundestag eine breite Mehrheit für eine Impfpflicht für alle Erwachsenen zustande bekommen. Weil es anders nicht geht. Wir werden sonst im Herbst eine traurige Situation vorfinden. Es war und ist noch ein Kampf, hohe Todeszahlen zu vermeiden. Ich bin nicht sicher, ob wir das im Herbst noch einmal schaffen würden. Deswegen ist die Einführung der Impfpflicht innenpolitisch eine der wichtigsten Entscheidungen der kommenden Monate überhaupt. Sie entscheidet, wie Lage und Stimmung im Herbst sind. Auch für unsere Wirtschaft hängt viel davon an. Kommt eine Herbstwelle war es das mit dem Aufschwung.

Ab wann müsste es mit den Pflichtimpfungen losgehen, um bis Herbst ausreichenden Schutz zu erreichen?

Um vollständigen Impfschutz zu erreichen, braucht es mindestens vier Monate. Ab Mitte Juni müsste mit dem Impfen für den Herbst begonnen werden. Dann können wir es schaffen, ohne drastische Einschränkungen bis ins nächste Frühjahr zu kommen. Der Vorschlag der Union, erst bei einer neuen Bedrohungslage zu starten, käme dafür mehrere Monate zu spät. Das belegen die jüngsten Modellierungen der Wissenschaft. Ohne Impfpflicht ab Sommer reden wir ab Oktober wieder über Masken, Homeoffice-Pflicht, 2G, 3G. Deswegen bin ich davon überzeugt, dass wir eine Mehrheit für die Impfpflicht bekommen werden. Ich setze auf die Kraft des Arguments. Die ganze Bundesregierung ist sich der Bedeutung dieser Weichenstellung bewusst.

Von Corona zur Finanzlage: Bei den Kassen klafft 2023 ein Loch von 17 Milliarden Euro. Wie wollen Sie das schließen?

Ich werde rechtzeitig einen wohl überlegten Gesetzentwurf vorlegen. So viel vorab: Wir müssen an vier Stellschrauben drehen: Effizienzreserven im Gesundheitssystem heben, Reserven bei den Krankenkassen nutzen, zusätzliche Bundeszuschüsse gewähren, und die Beiträge anheben.

Wie hoch werden die Beiträge steigen?

Es wäre unprofessionell, würde ich Ihnen hier aus den laufenden Gesprächen berichten.Milliarden Euro wären durch niedrigere Steuern für Arzneimittel einzusparen. Wird das am Widerstand der Apotheker scheitern, die 2020 Rekordgewinne eingefahren haben?Unabhängig von Ihrer Frage kann ich versichern: Lobbyinteressen werden bei der Sanierung der Kassenfinanzen keine Rolle spielen.

Kommt Ihr Gesetzentwurf vor der Sommerpause?

Wir werden rechtzeitig liefern.

Und wann wird die Kommission für die Krankenhausreform eingesetzt?

In wenigen Wochen werde ich die Mitglieder benennen. Es wird eine Expertenkommission sein, die nicht mit den üblichen Verbändevorsitzenden bestückt ist. Ich setze auf die Wissenschaft. Die Benennung der Experten wird gerade vorbereitet.

Wie lautet der Auftrag?

Die Versorgung muss qualitativ besser und effizienter werden. Und wir müssen trotz extremen Personalmangels die Versorgungssicherheit gewährleisten. Wir laufen auf eine Situation zu, in der wir in vielen Regionen zu wenige Pflegekräfte und zu wenige Ärzte haben. Darauf müssen wir Antworten finden. Die Herausforderungen sind enorm. Zusätzlich müssen mehr stationäre Leistungen ambulant gemacht werden, wo das medizinisch sinnvoll ist.