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Interview mit Intensivmediziner„Viele Pflegekräfte können schlicht nicht mehr“

Lesezeit 5 Minuten

Eine Intensivstation

  1. Die vierte Corona-Welle rollt über das Land.
  2. Im Interview schildert der Chef der Intensivmediziner-Vereinigung Divi, wie dramatisch die Lage ist, was jetzt getan werden müsste und wie groß Frust und Erschöpfung der Beschäftigten sind.

Gernot Marx steht als Klinikdirektor an der Uniklinik Aachen und Präsident von Deutschlands Intensivmedizinern im Kampf gegen das Virus an vorderster Front. Der 55-Jährige sieht die Krankenhäuser auf eine Notsituation zusteuern.

Herr Professor Marx, die Zahl der Corona-Intensivpatienten schießt seit Anfang Oktober hoch. Gibt es schon wieder echte Engpässe?

Die Lage ist regional sehr unterschiedlich. In Sachsen, Thüringen und Bayern ist es schon jetzt sehr, sehr angespannt. Die Charité im Ballungsraum Berlin hat schon alle planbaren OPs abgesagt. Das ist eine echte Notsituation. Wegen der Erfahrungen der vorangegangenen Wellen gehen wir fest davon aus, dass schon bald Patienten wieder aus Corona-Hotspots in Kliniken außerhalb verlegt werden müssen. Innerhalb der fünf Regionen, den so genannten „Kleeblättern“, wird zudem bereits sehr rege verlegt – aber eben noch nicht hunderte Kilometer weit entfernt von einem Kleeblatt ins nächste, wie wir das rund um Weihnachten 2020 vom Süden in den Norden machen mussten.

Laut Divi-Register gibt es eine Notfallreserve von fast 10000 Betten…

Wir haben zwar eine bundesweite Notfallreserve. Das heißt aber auch, dass jede Klinik dann ausschließlich Notfälle, also akut lebensbedrohlich erkrankte Patienten behandeln würde – nur so können die Betten innerhalb von sieben Tagen aktiviert werden, weil wir ja Personal dafür benötigen. Und auch jetzt schon sind wir in einer kritischeren Phase, weil wir auf Grund der erschöpften und ausgebrannten Pflegekräfte, die den Job hingeworfen oder ihre Arbeitszeit reduziert haben, 4000 Intensivbetten weniger belegen können als vor einem Jahr. Die Universitätsklinik Düsseldorf hatte schon vergangene Woche kein einziges Intensivbett mehr frei. Das ist für ein so großes Krankenhaus absolut ungewöhnlich. Für alle in der Intensivmedizin Tätigen ist das gerade eine extreme Situation.

Viele vermeidbare Fälle

Die aktuelle Corona-Lage und die steigende Zahl der stationär behandelten Covid-19-Patienten erinnert an die Situation vor einem Jahr. „Diese Entwicklung lässt die Krankenhäuser in NRW mit großer Sorge auf die kommenden Wochen blicken“, sagt ein Sprecher der Krankenhausgesellschaft NRW.

Einiges ist aber anders als im Vorjahr. Der große Anteil der Geimpften sorge für einen flacheren Anstieg der stationären Corona-Fälle, besonders auf den Intensivstationen. Heißt aber auch: der weit überwiegende Teil der schweren Verläufe hätte durch eine rechtzeitige Impfung vermieden werden können. Die Beanspruchung der Intensivkapazitäten sei bereits jetzt „massiv“. Gegen die schweren Verläufe kämpfen nun die Mitarbeiter auf den Intensivstationen, die auch noch das vergangene Jahr in den Knochen hätten. Dieser vermeidbare Kampf raube vielen wertvolle Energie und führe zu Personalengpässen, sagt der Sprecher. (sim)

Steuern wir auf ein Triage-Szenario zu, wo nicht mehr jeder Patient behandelt werden kann?

Wir haben in Deutschland ein sehr gut ausgestattetes Gesundheitssystem. Das ist ein Segen, und deswegen sehe ich die Gefahr einer Triage nicht. Dass wir von zwei Patienten nur einen behandeln können und den anderen nicht, das wird in Deutschland nicht passieren – also wirklich in dem Sinne, dass wir über Leben und Tod entscheiden müssten. Wir habe es auch auf dem Höhepunkt der zweiten Welle mit fast 6000 Covid-Intensivpatienten geschafft. Allerdings werden zahllose planbare Eingriffe, zum Beispiel Herz-OPs, womöglich für Monate aufgeschoben werden müssen, was viel Leid verursacht. Und wir werden wieder Personal aus anderen Klinikbereichen auf die Intensivstationen abstellen müssen, so dass sie sich dort um Covid-Patienten kümmern müssen und keine Zeit für die anderen Patienten haben.

Erleben wir wirklich eine Pandemie der Ungeimpften?

Es gibt viele Impfdurchbrüche. Das heißt aber erstmal nur, dass es viele Geimpfte gibt, die positiv auf Corona getestet werden, aber in aller Regel leichte Verläufe haben, oftmals merken sie die Infektion gar nicht. Schwere Verläufe bei vollständig Geimpften sehen wir nur bei Hochbetagten oder Immungeschwächten. Impfdurchbrüche gibt es bei jeder Impfung. Auch nach einer Masern-Impfung kann man Masern bekommen, aber auch dann deutlich abgeschwächt. Klar ist auch: Je mehr Menschen geimpft sind – bei uns inzwischen 56 Millionen – desto mehr Impfdurchbrüche gibt es. Wir haben aber mit Auffrischungsimpfungen ein enorm wirksames Instrument, um Impfdurchbrüche zu minimieren.

Kommende Woche wollen Bund und Länder über das weitere Vorgehen entscheiden. Zu spät?

Wir brauchen sehr zügig klare und der Lage angemessene Entscheidungen, und zwar für bundesweit einheitliche Regeln. Und wir brauchen eine klare Kommunikation der Entscheidungen und ein Ende der permanenten Streitereien, damit umgesetzt und eingehalten wird, was beschlossen worden ist.

Braucht es den bundesweiten „Lockdown light“ für Ungeimpfte?

Darüber zu befinden ist nicht Sache von uns Intensivmedizinern, wir kümmern uns um den Schutz von Patienten und Mitarbeitern. Fest steht: Es sind mehr Impfungen nötig, die Impfkampagne muss mit Vollgas beschleunigt werden, mit allem, was geht! Es fehlen ja gar nicht mehr so viele Prozente, und dann sind wir da, wo Spanier und Portugiesen schon sind. Das Ziel müssen wir so schnell wie möglich erreichen. Und wir wünschen uns maximales Tempo bei den Booster-Impfungen für unser Personal und ein strenges Testregime für alle Kliniken, um Patienten zu schützen und Impfdurchbrüche sofort zu erkennen und zu stoppen.

Was halten Sie von den Rufen nach einer Impfpflicht für Pflegekräfte?

Die Divi ist gegen eine Impfpflicht. Wir setzen auf die angemessene individuelle Entscheidung. Im Intensivbereich ist die Impfquote von Ärzten und Pflegekräften extrem hoch.

Warum hat Corona den Pflegenotstand verschärft?

Schon vor Corona fehlten tausende Pflegekräfte. Nach 22 Monaten Pandemie sind die Leute einfach erschöpft. Die Pflegerinnen und Pfleger sind die ganze Zeit am Patienten, müssen zig Mal am Tag die Schutzkleidung an- und ausziehen, mit FFP2-Maske hart körperlich arbeiten. Wer das nicht erlebt hat, kann es sich vielleicht schwer vorstellen, aber glauben Sie mir: Das ist physisch und psychisch so unglaublich anstrengend. Und das nun schon über eine so lange Zeit und mit noch vielen harten Monaten vor uns. Viele können das schlicht nicht mehr. Manche haben kapituliert und ganz aufgehört, sehr viele mehr haben ihre Arbeitszeit verkürzt. Unter dem Strich sind deswegen 4000 Betten weniger belegbar. Technik und Betten sind ausreichend vorhanden, was fehlt, sind die Menschen.