Welche Wege führen aus dem Krieg? Der frühere Merkel-Berater und Ex-Brigadegeneral Erich Vad hat beim russischen Einmarsch in die Ukraine einen schnellen Sieg Moskaus vorausgesagt. Im Interview mit Annika Ross sieht er die ukrainischen Chancen auch heute noch skeptisch.
Interview mit Ex-General Erich Vad„Wir erleben weitgehend eine Gleichschaltung der Medien“
Herr Vad, was sagen Sie zu der gerade von Kanzler Scholz verkündeten Lieferung der 40 Marder an die Ukraine?
Erich Vad: Das ist eine militärische Eskalation, auch in der Wahrnehmung der Russen – auch wenn der über 40 Jahre alte Marder keine Wunderwaffe ist. Wir begeben uns auf eine Rutschbahn. Das könnte eine Eigendynamik entwickeln, die wir nicht mehr steuern können. Natürlich war und ist es richtig, die Ukraine zu unterstützen und natürlich ist Putins Überfall nicht völkerrechtskonform – aber nun müssen doch endlich die Folgen bedacht werden.
Und was könnten die Folgen sein?
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Will man mit den Lieferungen der Panzer Verhandlungsbereitschaft erreichen? Will man damit den Donbass oder die Krim zurückerobern? Oder will man Russland gar ganz besiegen? Es gibt keine realistische End-State-Definition. Und ohne ein politisch strategisches Gesamtkonzept sind Waffenlieferungen Militarismus pur.
Unbequeme Wahrheit aus dem US-Generalstab
Was heißt das?
Wir haben eine militärisch operative Patt-Situation, die wir aber militärisch nicht lösen können. Das ist übrigens auch die Meinung des amerikanischen Generalstabschefs Mark Milley. Er hat gesagt, dass ein militärischer Sieg der Ukraine nicht zu erwarten sei und dass Verhandlungen der einzig mögliche Weg seien. Alles andere bedeutet den sinnlosen Verschleiß von Menschenleben.
General Milley löste mit seiner Aussage in Washington viel Ärger aus und wurde auch öffentlich stark kritisiert.
Er hat eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen. Eine Wahrheit, die in den deutschen Medien übrigens so gut wie gar nicht publiziert wurde. Das Interview mit Milley von CNN tauchte nirgendwo größer auf, dabei ist er der Generalstabschef unserer westlichen Führungsmacht. Was in der Ukraine betrieben wird, ist ein Abnutzungskrieg. Und zwar einer mit mittlerweile annähernd 200 000 gefallenen und verwundeten Soldaten auf beiden Seiten, mit 50 000 zivilen Toten und mit Millionen von Flüchtlingen. Milley hat damit eine Parallele zum Ersten Weltkrieg gezogen, die treffender nicht sein könnte. Im Ersten Weltkrieg hat allein die sogenannte Blutmühle von Verdun, die als Abnutzungsschlacht konzipiert war, zum Tod von fast einer Million junger Franzosen und Deutscher geführt. Sie sind damals für nichts gefallen. Das Verweigern der Kriegsparteien von Verhandlungen hat also zu Millionen zusätzlicher Toter geführt. Diese Strategie hat damals militärisch nicht funktioniert – und wird das auch heute nicht tun.
Auch Sie sind für die Forderung nach Verhandlungen angegriffen worden.
Ja, ebenso der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, der wie ich davor gewarnt hat, die regionalbegrenzten Offensiven der Ukrainer in den Sommermonaten zu überschätzen. Militärische Fachleute – die wissen, was unter den Geheimdiensten läuft, wie es vor Ort aussieht und was Krieg wirklich bedeutet – werden weitestgehend aus dem Diskurs ausgeschlossen. Sie passen nicht zur medialen Meinungsbildung. Wir erleben weitgehend eine Gleichschaltung der Medien, wie ich sie so in der Bundesrepublik noch nie erlebt habe. Das ist pure Meinungsmache. Und zwar nicht im staatlichen Auftrag, wie es aus totalitären Regimen bekannt ist, sondern aus reiner Selbstermächtigung.
Sie werden von den Medien auf breiter Front angegriffen, von „Bild“ bis „FAZ“ und „Spiegel“, und damit auch die 500.000 Menschen, die den von Alice Schwarzer initiierten Offenen Brief an den Kanzler unterzeichnet haben.
So ist es. Zum Glück hat Alice Schwarzer ihr eigenes, unabhängiges Medium, um diesen Diskurs überhaupt eröffnen zu können. In den Leitmedien hätte das wohl nicht funktioniert. Dabei ist die Mehrheit der Bevölkerung schon länger und auch laut aktueller Umfrage gegen weitere Waffenlieferungen. Das alles wird jedoch nicht berichtet. Es gibt weitestgehend keinen fairen, offenen Diskurs mehr zum Ukraine-Krieg, und das finde ich sehr verstörend. Das zeigt mir, wie recht Helmut Schmidt hatte. Er sagte in einem Gespräch mit Kanzlerin Merkel: Deutschland ist und bleibt eine gefährdete Nation.
Grünen-Mutation zur Kriegspartei
Wie beurteilen Sie die Politik der Außenministerin?
Militärische Operationen müssen immer an den Versuch gekoppelt werden, politische Lösungen herbeizuführen. Die Eindimensionalität der aktuellen Außenpolitik ist nur schwer zu ertragen. Sie ist sehr stark fokussiert auf Waffen. Die Hauptaufgabe der Außenpolitik aber ist und bleibt Diplomatie, Interessenausgleich, Verständigung und Konfliktbewältigung. Das fehlt mir hier. Ich bin ja froh, dass wir endlich mal eine Außenministerin in Deutschland haben, aber es reicht nicht, nur Kriegsrhetorik zu betreiben und mit Helm und Splitterschutzweste in Kiew oder im Donbass herumzulaufen. Das ist zu wenig.
Dabei ist Annalena Baerbock doch Mitglied der Grünen, der ehemaligen Friedenspartei.
Die Mutation der Grünen von einer pazifistischen zu einer Kriegspartei verstehe ich nicht. Ich selbst kenne keinen Grünen, der überhaupt auch nur den Militärdienst geleistet hätte. Anton Hofreiter ist für mich das beste Beispiel dieser Doppelmoral. Antje Vollmer hingegen, die ich zu den ursprünglichen Grünen zählen würde, nennt die Dinge beim Namen. Und dass eine einzige Partei so viel politischen Einfluss hat, dass sie uns in einen Krieg manövrieren kann, das ist schon sehr bedenklich.
Wenn Sie noch der militärische Berater des Kanzlers wären, was hätten Sie ihm im Februar 2022 geraten?
Ich hätte ihm geraten, die Ukraine militärisch zu unterstützen, aber dosiert und besonnen, um Rutschbahneffekte in eine Kriegspartei zu vermeiden. Und ich hätte ihm geraten, auf unseren wichtigsten politischen Verbündeten, die USA, einzuwirken. Denn der Schlüssel für eine Lösung des Krieges liegt in Washington und Moskau. Mir hat der Kurs des Kanzlers in den letzten Monaten gefallen. Aber Grüne, FDP und die bürgerliche Opposition machen – flankiert von weitestgehend einstimmiger medialer Begleitmusik – dermaßen Druck, dass der Kanzler das kaum noch auffangen kann.
Und was, wenn auch der Leopard geliefert wird?
Dann stellt sich erneut die Frage, was mit den Lieferungen der Panzer überhaupt passieren soll. Um die Krim oder den Donbass zu übernehmen, reichen die Marder und Leoparden nicht aus. In der Ostukraine, im Raum Bachmut, sind die Russen eindeutig auf dem Vormarsch. Sie werden wahrscheinlich den Donbass in Kürze vollständig erobert haben. Man muss sich nur allein die numerische Überlegenheit der Russen gegenüber der Ukraine vor Augen führen. Russland kann bis zu zwei Millionen Reservisten mobil machen. Da kann der Westen 100 Marder und 100 Leoparden hinschicken, sie ändern an der militärischen Gesamtlage nichts. Und die alles entscheidende Frage ist doch, wie man einen derartigen Konflikt mit einer kriegerischen Nuklearmacht – wohl bemerkt der stärksten Nuklearmacht der Welt! – durchstehen will, ohne in einen Dritten Weltkrieg zu gehen. Und genau das geht hier in Deutschland in die Köpfe der Politiker und der Journalisten nicht hinein!
Das Argument ist, Putin wolle nicht verhandeln und dass man ihn in seine Schranken weisen müsse, damit er in Europa nicht weiter wütet.
Es stimmt, dass man den Russen signalisieren muss: Bis hierher und nicht weiter! So ein Angriffskrieg darf nicht Schule machen. Deshalb ist es richtig, dass die Nato ihre militärische Präsenz im Osten erhöht und Deutschland hier mitmacht. Aber dass Putin nicht verhandeln will, ist unglaubwürdig. Beide, die Russen und Ukrainer waren am Anfang des Krieges Ende März, Anfang April 2022 zu einer Friedensvereinbarung bereit. Daraus ist dann nichts geworden. Es wurde schließlich auch während des Krieges das Getreideabkommen von den Russen und Ukrainern unter Einbeziehung der Vereinten Nationen fertig verhandelt.
Nun geht das Sterben weiter.
Man kann die Russen weiter abnutzen, was wiederum Hunderttausende Tote bedeutet, aber auf beiden Seiten. Und es bedeutet die weitere Zerstörung der Ukraine. Was bleibt denn von diesem Land noch übrig? Es wird dem Erdboden gleichgemacht. Letztendlich ist das für die Ukraine auch keine Option mehr. Der Schlüssel für die Lösung des Konfliktes liegt nicht in Kiew, er liegt auch nicht in Berlin, Brüssel oder Paris, er liegt in Washington und Moskau. Es ist doch lächerlich zu sagen, die Ukraine müsse das entscheiden.
Mit dieser Deutung gilt man in Deutschland schnell als Verschwörungstheoretiker…
Ich bin selber überzeugter Transatlantiker. Ich sage Ihnen ehrlich, ich möchte im Zweifelsfall lieber unter einer amerikanischen Hegemonie als unter einer russischen oder chinesischen leben. Dieser Krieg war anfangs nur eine innenpolitische Auseinandersetzung der Ukraine. Die ging bereits 2014 los, zwischen den russischsprachigen ethnischen Gruppen und den Ukrainern selber. Es ist also ein Bürgerkrieg gewesen. Jetzt, nach dem Überfall Russlands, ist es ein zwischenstaatlicher Krieg zwischen Ukraine und Russland geworden. Es ist auch ein Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine und ihrer territorialen Integrität. Das ist alles richtig. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Es ist eben auch ein Stellvertreter-Krieg zwischen den USA und Russland, und da geht es um ganz konkrete geopolitische Interessen in der Schwarzmeerregion.
Die da wären?
Die Schwarzmeerregion ist für die Russen und ihre Schwarzmeerflotte so wichtig wie die Karibik oder die Region um Panama für die USA. So wichtig wie das südchinesische Meer und Taiwan für China. So wichtig wie die Schutzzone der Türkei, die sie völkerrechtswidrig gegenüber den Kurden etabliert haben. Vor diesem Hintergrund und aus strategischen Gründen können die Russen da auch nicht raus. Mal abgesehen davon, dass sich bei einer Volksabstimmung auf der Krim die Bevölkerung mit Sicherheit für Russland entscheiden würde.
Wie soll es also weitergehen?
Wenn die Russen durch massive westliche Intervention dazu gezwungen würden, sich aus der Schwarzmeerregion zurückzuziehen, dann würden sie, bevor sie von der Weltbühne abtreten, mit Sicherheit zu den Nuklearwaffen greifen. Ich finde den Glauben naiv, ein Atomschlag Russlands würde niemals passieren. Nach dem Motto, die bluffen doch nur.
Aber was könnte die Lösung sein?
Man sollte die Menschen in der Region, also im Donbass und auf der Krim, einfach fragen, zu wem sie gehören wollen. Man müsste die territoriale Integrität der Ukraine wiederherstellen, mit bestimmten westlichen Garantien. Und die Russen brauchen so eine Sicherheitsgarantie eben auch. Also keine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine. Seit dem Gipfel von Bukarest von 2008 ist klar, dass das die rote Linie der Russen ist.
Und was kann Deutschland Ihrer Meinung nach tun?
Wir müssen unsere militärische Unterstützung so dosieren, dass wir nicht in einen Dritten Weltkrieg gleiten. Keiner von denen, die 1914 mit großer Begeisterung in den Krieg gezogen sind, war hinterher noch der Meinung, dass das richtig war. Wenn das Ziel eine unabhängige Ukraine ist, muss man sich perspektivisch auch die Frage stellen, wie eine europäische Ordnung unter Einbeziehung Russlands aussehen soll. Russland wird ja nicht einfach von der Landkarte verschwinden.
Wir müssen vermeiden, die Russen in die Arme der Chinesen zu treiben, und damit die multipolare Ordnung zu unseren Ungunsten zu verschieben. Wir brauchen Russland auch als Führungsmacht eines Vielvölkerstaates, um aufflammende Kämpfe und Kriege zu vermeiden. Und ehrlich gesagt sehe ich nicht, dass die Ukraine Mitglied der EU und erst recht nicht Mitglied der Nato wird. Wir haben in der Ukraine ebenso wie in Russland eine hohe Korruption und die Herrschaft von Oligarchen. Das, was wir in der Türkei – mit Recht – in puncto Rechtsstaatlichkeit anprangern, das Problem haben wir in der Ukraine auch.
Was meinen Sie, Herr Vad, was erwartet uns im Jahr 2023?
Es muss sich in Washington eine breitere Front für Frieden aufbauen. Und dieser sinnfreie Aktionismus in der deutschen Politik, der muss endlich ein Ende finden. Sonst wachen wir eines Morgens auf und sind mittendrin im Dritten Weltkrieg.
Das Interview ist zuerst auf Emma.de erschienen.