AboAbonnieren

Interview mit Cem Özdemir„Wir haben ein Interesse an einer starken Türkei“

Lesezeit 5 Minuten
Cem Özdemir

Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft

Grünen-Minister Cem Özdemir über einen möglichen Wahlsieg der Opposition – und die Folgen, falls Erdogan im Amt bleibt.

Cem Özdemirs Eltern kamen als Gastarbeiter in den 60er Jahren nach Deutschland. Ihr Sohn ist mittlerweile Bundeslandwirtschaftsminister – der erste Minister in Deutschland mit türkischen Eltern. Mit Dirk Fisser spricht der Grünen-Politiker, der erst mit 18 Jahren deutscher Staatsbürger wurde, über die Wahl in der Türkei.

Herr Özdemir, die Türkei wählt. Sie selbst haben bereits die Hoffnung geäußert, dass damit die Regentschaft des autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan alsbald endet. Bleibt es bei der Hoffnung, jetzt, wo die Wahl angelaufen ist?

Die Umfragen zeigen, dass es ernsthafte Chancen gibt, dass der Oppositionsführer die Wahl gewinnt und es eine Mehrheit im Parlament für die Opposition geben könnte. Wir haben ein Interesse an einer starken Türkei, die demokratisch und rechtsstaatlich ist und sich für Menschenrechte einsetzt. Wenn die Türkei wieder auf einen demokratischen Kurs zurückkehrt, gibt es viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit.

Glauben Sie, dass Erdogan im Fall einer Wahlschlappe wirklich friedlich abtreten würde?

Die Spekulationen darum sind meines Erachtens Teil des Kalküls, um Wähler zu verunsichern und sie dazu zu bringen, nicht wählen zu gehen nach dem Motto: Es ändert sich eh nichts. Dass es diese Sorge aber gibt, ist offensichtlich. Das hängt damit zusammen, dass nach dieser langen Regierungszeit viele Leute sehr reich geworden sind und man sich schon fragen kann, woher dieser Reichtum von Staatssekretären oder Politikern stammt.

Wie nehmen Sie denn derzeit die Stimmung bei den türkischstämmigen Menschen in Deutschland wahr?

Die Polarisierung, die wir in der Türkei haben, und die im Fall eines Wahlsiegs von Erdogan noch massiver werden würde, hat sich auch hierzulande fortgesetzt. Sie spaltet Familien, Freundeskreise und Belegschaften. Viele aus der Opposition, die eine andere Meinung vertreten, fürchten sich – das ist natürlich unerträglich. Hier in Deutschland gilt das deutsche Grundgesetz, da kann jeder seine Meinung sagen. Man kann nicht Plädoyers für die Demokratie in der Türkei halten und abends geht man in türkische Vereine und schweigt dazu, wenn dort Volksverhetzendes gesagt wird. Ich habe den Wunsch, dass man 24 Stunden am Tag Demokrat ist und nicht Teilzeit-Demokrat.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum so viele Türken in Deutschland Erdogan wählen?

Sein Wahlerfolg hat sicher damit zu tun, dass es Erdogan gelungen ist, den Türken das Gefühl zu geben: Wir sind wieder wer! Nachdem die Türkei lange Zeit als kranker Mann am Bosporus galt und Schlagzeilen machte mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, hat Erdogan es – vor allem in der Frühphase – geschafft, das Land zu konsolidieren und eine Aufbruchstimmung auszulösen. Es gab die Hoffnung, dass seine Partei AKP so eine Art CSU in der Türkei werden könnte, eine Versöhnung von religiösen und konservativen Kräften. Das hat sich als Irrtum erwiesen und sogar ins Gegenteil verkehrt.

Hat die teilweise Begeisterung für Erdogan auch mit der deutschen Politik zu tun?

Ja, es hängt auch mit unseren Versäumnissen zusammen. Nehmen Sie mich: Ich bin im Dezember 1965 geboren. Ich habe immer besser Schwäbisch als Türkisch gesprochen und war trotzdem 18 Jahre meines Lebens türkischer Staatsbürger – obwohl ich niemals mehr als sechs Wochen Urlaub im Sommer in der Türkei verbracht habe. Wenn man Leuten lange genug erzählt: ,Ihr gehört nicht hierzu‘, dann benehmen sie sich auch so. Hinzu kommen rassistische Anschläge vor allem Anfang der 1990er Jahre, die auch dazu beigetragen haben, dass viele Deutschtürken Erdogan als Retter und Beschützer gesehen haben.

Ist der Weg zum deutschen Pass für türkischstämmige Menschen eigentlich immer noch zu steinig?

Es hat sich ja Gott sei Dank etwas verändert. Als wir in der rot-grünen Regierung waren, haben wir das Staatsbürgerrecht reformiert. Allerdings konnten wir nicht so weit gehen, wie wir wollten, weil wir keine Mehrheit im Bundesrat hatten. Das hat dazu geführt, dass gerade mal die Hälfte derer, die in Deutschland geboren werden, Staatsbürger werden und die anderen nicht. Das heißt, wir produzieren immer noch inländische Ausländer. Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, aus Ausländern Inländer zu machen, wenn sie unsere Sprache sprechen, sich zum Grundgesetz bekennen und hier ihren Lebensunterhalt verdienen. Dann gehören sie dazu. Die dürfen wir nicht an Erdogan verlieren.

Die drittgrößte Gruppe der Asylantragsteller in Deutschland sind derzeit Türken. Welche Folgen wird die Wahl für die Fluchtbewegung haben?

Wenn Erdogan die Wahl gewinnt, dann wird sich – das zeigen Umfragen – ein Großteil der Jugendlichen aus der Türkei verabschieden. Weil dann die Hoffnung auf eine bessere Entwicklung dahin wäre. Politischen Oppositionellen, Journalisten und Wissenschaftlern würde die Luft zum Atmen abgeschnitten.

Die Anerkennungsquote türkischer Asylbewerber ist äußerst gering. Sie wären damit eine der Zielgruppen bei der Änderung am EU-Asylrecht, die Innenministerin Nancy Faeser vorgeschlagen hat. Sie will Asylanträge an den EU-Außengrenzen durchführen. Brauchen wir solche Zentren in der Türkei?

Das hängt davon ab, ob die Türkei wieder zu einem Rechtsstaatspartner wird oder nicht. Sollten die Demokraten die Wahl gewinnen, muss man sicher noch einmal schauen, wie die Zusammenarbeit aussehen kann. Wenn wir wollen, dass die Europäische Union gemeinsam agiert, darf man die Staaten des südlichen Europas nicht alleine lassen. Das führt regelmäßig dazu, dass dort die Rechtspopulisten an die Macht kommen. Wenn wir das nicht wollen, brauchen wir mehr europäische Solidarität. Das heißt, wir müssen an der europäischen Grenze wissen, wer die EU betritt, wo die Menschen herkommen und wie hoch die Bleibewahrscheinlichkeit ist. Bei Ländern, wo die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, sollten diese Menschen eine Anerkennung bekommen. Das setzt aber voraus, dass wir bereit sind, Menschen aus diesen Ländern in der Europäischen Union weiterzuverteilen.