Schon seit Jahren fliehen immer mehr Türken nach Europa. In Deutschland registrierten Behörden voriges Jahr 240 Prozent mehr als im Vorjahr. Das könnte noch steigen.
Türkei-WahlViele Türken wollen auswandern, wenn Erdogan gewinnt
Ahmet wartet gespannt auf den 14. Mai. Dann entscheidet sich bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei nicht nur, ob Präsident Recep Tayyip Erdogan das Land fünf weitere Jahre führen wird. Für Ahmet geht es um die eigene Zukunft: „Wenn die nicht abgewählt werden, dann verlasse ich mit meiner Familie das Land“, sagt er. „Geht ja nicht mehr anders.“
Ahmet (Name geändert) ist um die 40, arbeitet in der Elektronikbranche in Istanbul und macht sich als Vater von zwei Kindern seine Gedanken. „Ein Land muss seinen Bürgern drei Dinge bieten: vernünftige Gesundheitsversorgung, gute Bildung, eine ordentliche Wirtschaft“, sagt er. „Nichts davon gibt es hier noch, alles haben sie herabgewirtschaftet. Der Krämer an der Ecke könnte die Wirtschaft besser leiten als diese Regierung.“
Viele fliehen nach Deutschland
Wenn Erdogan an der Macht bleibt, will Ahmet noch vor Jahresende das Land verlassen und nach Deutschland ziehen. Er hat Verwandte dort, außerdem sieht er berufliche Perspektiven: „Meine Frau arbeitet im Gesundheitswesen, das soll dort gefragt sein.“ Die Türkei sei für ihn jedenfalls erledigt, wenn die Opposition am 14. Mai nicht siege. „Dann müssen wir hier fort.“
Schon seit Jahren fliehen immer mehr Türken nach Europa. In Deutschland registrierten die Behörden voriges Jahr knapp 24000 türkische Asylbewerber, 240 Prozent mehr als im Vorjahr. Die zunehmende Repression unter Erdogans Präsidentschaft und die schlechte Wirtschaftslage mit einer Inflationsrate von zeitweise mehr als 80 Prozent treiben sie aus dem Land. Sollte Erdogan am 14. Mai im Amt bestätigt werden, würden viele seiner Gegner die Hoffnung verlieren, dass sich noch einmal etwas ändern kann in der Türkei.
Eine Umfrage des Instituts MetroPoll ergab im vergangenen Jahr, dass 53 Prozent der Wähler in der Türkei im Ausland leben oder studieren wollen. Besonders hoch ist demnach der Anteil der potenziellen Auswanderer unter den Wählern der Oppositionsparteien und unter jungen Türken: Zwei Drittel der Befragten im Alter zwischen 18 und 34 Jahren träumen laut MetroPoll von einem Leben im Ausland.
Nach dem 14. Mai könnte ein „Exodus “starten
Deshalb könnten nach dem 14. Mai noch mehr Türken ihr Land verlassen. Wenn Erdogan das Rennen um die Präsidentschaft und die AKP die Parlamentswahl gewinnen sollten, sei ein „Exodus“ zu erwarten, meint Seren Selvin Korkmaz, Chefin der Istanbuler Denkfabrik IstanPol: Die Enttäuschung der Erdogan-Gegner wäre in diesem Fall so groß, dass viele von ihnen nicht mehr in der Türkei bleiben wollten. Als Folge würde es eine massenhafte Abwanderung gut ausgebildeter Türken geben, schrieb Korkmaz in einem Beitrag für das Washington Institute.
Nach Einschätzung von Soner Cagaptay vom Washington Institute dürfte dieser „Brain Drain“ nach einem Wahlsieg von Erdogan zu einem Problem für die türkische Wirtschaft werden. Abwandern würden nämlich vor allem besonders gut ausgebildete Türken aus der Mittel- und Oberschicht, „die ihre Hoffnung verloren haben“, meint er. Ohne diese Fach- und Führungskräfte werde es der Türkei schwerfallen, zu einer „fortschrittlichen und wohlhabenden Gesellschaft“ aufzusteigen.
Der „Brain Drain“ ist bereits im Gange. Süleyman Sönmez, Direktor des Wirtschaftsverbandes Türkonfed, schätzt, dass allein im vergangenen Jahr rund 12000 Akademiker die Türkei verlassen haben. In den letzten drei Jahren seien insgesamt 300000 vorwiegend junge Türken ins Ausland gegangen, sagte Sönmez kürzlich. Oppositionsmedien berichten, dass im Jahr 2022 rund 7000 Ärzte ins Ausland gegangen sind.
Erdogan: „Sollen sie doch gehen“
Erdogan spielte das Problem lange herunter. „Sollen sie doch gehen“, sagte der Präsident im vergangenen Jahr über die Ärzte. Inzwischen ruft er die Auswanderer auf, in die Türkei zurückzukehren.
Viele Wähler kann Erdogan damit nicht mehr überzeugen. Er sei sicher, dass Erdogan die Wahl verlieren werde, sagt ein Istanbuler Frührentner. „Aber wenn er trotzdem gewinnen sollte, bin ich weg.“ Zusammen mit seiner Frau hat er sich schon Wohnungen in europäischen Ländern angeschaut, in denen er mit dem Kauf von Immobilien ein Aufenthaltsrecht erwerben kann.
Auch Türken, die sich keine Wohnung im Ausland leisten können, machen ihre Lebensplanung vom Wahlausgang abhängig. „Wenn diese Wahl schiefgeht, dann bleibt uns wohl keine andere Chance mehr, als die Türkei zu verlassen“, sagt ein junger Istanbuler. Bis zum Wahltag will er herausfinden, in welchen Balkanländern er mit einem türkischen Pass visafrei einreisen könnte.
Umgekehrt sitzen viele Türken im Exil auf gepackten Koffern, um in ihr Heimatland zurückkehren zu können, falls Erdogan die Wahl verliert. Einer von ihnen, der prominente Journalist und Erdogan-Kritiker Cengiz Candar, ist in der Hoffnung auf einen Sieg der Opposition nach sieben Jahren in Schweden bereits in die Türkei heimgekehrt, um bei der Parlamentswahl für die pro-kurdische Grünen-Links-Partei zu kandidieren. Kurz nach seiner Ankunft in Istanbul musste Candar jedoch erst einmal vor Gericht erscheinen: Gegen ihn läuft ein Prozess wegen eines Twitter-Kommentars aus dem Jahr 2017.