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Interview mit Ärztepräsident„Ich hätte mir mehr Lockerungen vorstellen können“

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Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer

  1. Klaus Reinhardt ist Präsident der Bundesärztekammer.
  2. Birgit Marschall hat mit ihm über die jüngsten Beschlüsse von Bund und Ländern zur Bekämpfung der Corona-Krise gesprochen.
  3. Die Verlängerung der Kontaktsperre in diesem Umfang hält er nicht für nötig,

Deutschland wird international als vorbildlich im Corona-Krisenmanagement gelobt. Können Sie das aus Sicht der Ärzte bestätigen?

Ja, das kann ich. Die von Bund und Ländern beschlossenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens waren richtig und werden von den Menschen akzeptiert. Aber auch Ärzte, ihre Medizinischen Fachangestellten in den Praxen und das Pflegepersonal haben viel dazu beigetragen, dass die Lage nach wie vor unter Kontrolle ist. In den Krankenhäusern haben wir so viele Kapazitäten freigehalten, dass wir in Deutschland weit von den Verhältnissen in Italien, Spanien oder Frankreich entfernt sind. Wir sind gut vorbereitet – bis auf eine Einschränkung, dass wir nicht ausreichend Schutzkleidung und Masken vorgehalten haben.

Wie ist die Stimmung in den Arztpraxen und Kliniken?

In den Praxen hat sich die Stimmung gebessert, weil wir jetzt endlich mehr Schutzkleidung und Masken bekommen. Viele Dinge haben sich jetzt eingespielt. Patienten mit Corona-Symptomen wissen etwa, dass sie sich zunächst telefonisch in der Praxis melden sollen, um an Randzeiten einbestellt zu werden. Derzeit haben wir nicht einmal einen Corona-Fall pro vertragsärztlicher Praxis…

Wie läuft die Ausstattung mit Schutzkleidung - macht es sich bemerkbar, dass die Bundesregierung hilft?

Wie gesagt, die Versorgung mit Schutzkleidung hat sich verbessert, weil zunehmend mehr heimische Betriebe ihre Produktion darauf umgestellt haben. Zudem funktioniert jetzt auch wieder der Import einigermaßen, obwohl es starke internationale Konkurrenz um diese Produkte gibt. Aus dieser Krise werden wir sicher lernen müssen, dass wir uns künftig entsprechende nationale Reserven für Schutzkleidung und Masken zulegenund zu einem guten Teil auch in Deutschland, mindestens aber in Europa produktionsfähig sein müssen.

Wie soll eine flächendeckende Versorgung mit preiswerten Schutzmasken sichergestellt werden, die jetzt im ÖPNV und beim Einkauf dringend empfohlen werden?

Wenn man durch eine allgemeine Maskenpflicht erreichen wollte, dass die Träger dadurch auch selbst weniger angesteckt werden, bräuchten wir viele Millionen Masken mindestens der Klasse FFP2. Die haben wir aber aktuell nicht einmal für Pfleger und Ärzte in ausreichender Menge. Die Politik könnte natürlich trotzdem etwa für den ÖPNV eine Maskenpflicht vorschreiben. Dafür gibt es dann aber nur die selbst hergestellten Masken oder die einfachen, preiswerteren OP-Masken. Die können aber allenfalls die Mitmenschen ein wenig besser vor der Tröpfcheninfektion schützen. Der Träger selbst ist dadurch nicht sicherer.

Wäre eine generelle Maskenpflicht besser gewesen als eine „dringende Empfehlung“?

Ich halte davon nichts, weil wir nicht genügend Masken zur Verfügung haben, die die Bevölkerung effektiv schützen könnten. Außerdem befürchte ich, dass wir dann die asiatische Kultur des Maskentragens in jedem Winter übernehmen. Ich finde es im Übrigen nicht wünschenswert, dass wir uns gegenseitig überwiegend als Keimträger betrachten sollten.

Wie bewerten Sie die Beschlüsse von Bund und Ländern insgesamt?

Bund und Länder versuchen, den Bürgern eine Perspektive für eine schrittweise Normalisierung der Lage zu geben. Das finde ich gut und richtig. Im Beschlusspapier finden sich auch einige konkrete Daten, etwa für die Öffnung bestimmter kultureller Einrichtungen und für Teile des Einzelhandels. Insgesamt hätte ich mir aber einige Lockerungen mehr vorstellen können. Vor allem brauchen wir einen klaren Stufenplan für die Wiederaufnahme des Schulbetriebs. Da bleiben Bund und Länder viel zu unkonkret.

Brauchen wir die Kontaktsperre aus medizinischer Sicht wirklich noch bis 3. Mai?

Für dieses Datum gibt es keine konkrete wissenschaftliche oder medizinische Grundlage. Ohnehin sind weitere Studien zum Nutzen von Kontaktbeschränkungen notwendig. Insofern lässt sich Ihre Frage nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten.

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Zwischenergebnisse von laufenden Studien zeigen aber, dass besondere Gefahren von größeren Zusammenkünften auf engstem Raum ausgehen. Das konnten wir für Karnevalssitzungen nachweisen und das gilt natürlich auch für das Beisammensein von vielen Menschen in Clubs oder Bars. Hier sind Beschränkungen auch weiterhin dringend erforderlich.

Welche Regeln hätte man zusätzlich lockern können?

Die Akzeptanz in der Bevölkerung zum Abstandsgebot muss erhalten bleiben und weiter gesteigert werden. Das wird nur gehen, wenn die sozialen Einschränkungen auf ein erträgliches Maß begrenzt werden. Um vor allem Kinder aus prekären Verhältnissen zuhause herauszubringen, sollten jetzt schrittweise die Schulen und Kitas wieder öffnen.

Ist ein bundeseinheitliches Vorgehen wichtig, damit die Bürger die Regeln akzeptieren oder sind auch regionale Lösungen denkbar? Bayern will ja nun bei den Schulen wieder einen eigenen Weg gehen und sie erst ab 11. Mai öffnen.

Regionale Lösungen müssen möglich sein, weil die Hot-Spots unterschiedlich verteilt sein werden, wie in der jüngeren Vergangenheit etwa in Heinsberg. Dafür brauchen wir Sonderregeln. Die Bundesländer sollten dennoch gerade bei Schulen und Kitas möglichst einheitliche Regelungen anstreben.

Wie gut sind die Krankenhäuser jetzt auf einen Anstieg der Infektionszahlen vorbereitet?

Wir haben aktuell 9300 freie Intensivbetten. Planbare und weniger dringliche Eingriffe werden verschoben, damit genügend Kapazitäten für die Versorgung von Corona-Patienten zur Verfügung stehen. Im Moment gibt es überhaupt keinen Hinweis darauf, dass wir auf eine Überforderung der Krankenhäuser zusteuern. Die Belegungslage der Krankenhäuser lässt sich natürlich nicht verlässlich vorhersagen. Zum aktuellen Zeitpunkt und auf dem Boden der Entwicklung der letzten zwei Wochen besteht in dieser Hinsicht kein Grund, warum die Kontaktsperre noch weiter in diesem Umfang verlängert wird.

Müssen die Ärzte die Versorgung anderer Erkrankungen wegen Corona vernachlässigen?

Es gibt tatsächlich eine Vielzahl von chronisch Erkrankten, die aktuell nicht in den Praxen erscheinen, obwohl sie das normalerweise tun würden. Auch die Zahl der Schlaganfall- und Herzinfarktpatienten in den Kliniken ist gerade rückläufig. Es ist zu befürchten, dass diese Menschen Praxen und Kliniken aus Angst vor einer Corona-Infektion meiden. Diese Begleiterscheinungen der Epidemie werden wir erst nach der Krise richtig einschätzen können. Deshalb mein Rat: Bei starken Schmerzen oder Anzeichen auf schwere Erkrankungen, wie zum Beispiel Blinddarmentzündungen oder Schlaganfall- und Herzinfarktsymptome, bitte immer einen Arzt konsultieren.

Rechnen Sie mit wieder steigenden Ansteckungszahlen?

Wenn wir wieder mehr soziale Kontakte zulassen, wird es unter Umständen auch zu einem messbaren Anstieg der Infektionszahlen kommen können. Hinzu kommt, dass wir die Zahl der Corona-Tests stark erhöhen wollen. Und wenn wir mehr testen, werden wir automatisch auch zu höheren Infektionszahlen kommen. Es gibt Epidemiologen, die die Dunkelziffer mit dem Faktor 10 der aktuell getestet Infizierten annehmen. Wenn man diese Annahme teilt, würde das bedeuten, dass wir nicht 140.000, sondern in unter Umständen schon 1,4 Millionen Infizierte haben. Aktuell laufende repräsentative Studien werden dazu hoffentlich bald eine bessere Einschätzung möglich machen.

Wie lange wird es dauern, bis wir unser altes Leben zurückhaben?

Ich glaube nicht, dass wir das Thema im Mai oder im Juni schon hinter uns haben. Wir sind erst dann wirklich durch, wenn wir einen wirksamen Impfschutz für die Bevölkerung haben. Ich hoffe aber sehr, dass wir nach der Krise sagen können, wir haben das Risiko über- statt unterschätzt.